Wahlplakat 2012

Venezuela hat gewählt. Erneut hat es Hugo Chavez geschafft. 54 % der Stimmen hat er erhalten. Seine Verstaatlichungspolitik hat die Gesellschaft polarisiert nach 14 Jahren an der Macht. International tut er Ähnliches. – Das Leben einer Kirchengemeinde bleibt davon nicht unberührt. Davon schreibt Pfarrer Pferdehirt von der lutherischen Gemeinde San Miguel in Caracas:

„Unsere Gemeinde hier ist sehr geschrumpft. Ein großer Teil hat in den letzten Jahren mit den Koffern abgestimmt und ist in die Nachbarländer, in die USA oder nach Europa gegangen. Junge Leute suchen bessere Perspektiven in der „ersten Welt“, andere haben ihre Nische hier gefunden. Und doch, im Gespräch hört man es oft heraus: Viele sind in Alarmbereitschaft, bereit aufzubrechen, falls es am Sonntag für weitere sechs Jahre mit dieser Regierung weitergeht. Weil ihr Lebensstandard kontinuierlich gesunken ist. Weil sie ihren Betrieb bedroht sehen, immer neue Hürden überwinden müssen. Und über allem das Schreckgespenst der Enteignung schwebt. Das Vertrauen in Rechtssicherheit und Unabhängigkeit der Justiz – für viele ist es gebrochen. Und die Vorstellung, dass dies erst der Anfang sei, dass jetzt auf den Sozialismus die zweite Stufe, der Kommunismus folgen könnte mit weiteren Enteignungen (oder euphemistisch: „Nationalisierungen“) von Betrieben und Grundstücken, weiterer medialer Gleichschaltung, Propaganda in den Bildungseinrichtungen und schließlich mit dem Ende der Freizügigkeit, also Lebensbedingungen a là Cuba – für einen Großteil der europäischen Immigranten wäre das ein Horrorszenario. Andere hegen ihre Sympathien für die soziale Frage und das Anliegen der Missionen, der staatlichen Projekte in den sozialen Brennpunkten. Oder für die Ansätze der Selbstverwaltung in Kommunen und Kooperativen. Begrüßen es, dass der ärmeren Bevölkerung, insbesondere seinen indigenen Anteilen, jetzt Anerkennung entgegengebracht wird und jeder ein Recht auf Bildung und medizinische Versorgung hat (wie unzureichend sie im Einzelfall vor Ort auch sei – es fehlt an allem, an Ärzten, medizinischen Gerät, Medikamenten). Andere erinnern sich mit Scham an das fehlende soziale Gewissen in Teilen der venezolanischen Gesellschaft vor nicht allzu langer Zeit und sind froh, dass das jetzt anders ist. Dass es einen Präsidenten gibt, der den USA, der großen Übermacht im Norden die Stirn geboten hat. Der sich nicht manipulieren und benutzen lässt, sondern die Rechte Lateinamerikas selbstbewusst vertritt. Und sicher, es klingt auch so sympathisch: Das Venezuela jetzt allen gehöre, dass jetzt jeder die gleichen Chancen habe, dass jeder mitwirken könne… Ich selbst kann beides verstehen. Und sicher, die Botschaft Jesu, sie hat ein emanzipatorisches Potential. Eine Theologie der Freiheit, die Menschen sprach- und kritikfähig macht und sie aufruft, für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung einzutreten – eine solche Theologie ist mir persönlich lieb und wert. Die Option für die Armen, sie ist für mich eine unersetzbare ökumenische Basis. Und die Gemeinde in Caracas hat in ihrer Geschichte immer wieder gezeigt, dass Auslandsgemeinden gerade in Katastrophensituationen für die Menschen vor Ort da sein können, man denke an den Einsatz nach den Erdrutschen von 1999. Auf der anderen Seite sehe ich auch Gefahren, wenn ein Staat für sich in (absoluten) Anspruch nimmt, Heilsbringer für seine Bürger zu sein. Es nur noch auf die Konfrontation hinausläuft, es nicht um einen dritten Weg, sondern um Revolution und Überwindung der Gegner geht. Und hier liegt mein Unbehagen, wenn ich auf die vergangenen Regierungsjahre zurückblicke: Ein sozialer Frieden wird unmöglich, wenn 30 bis 40 % der Bevölkerung Venezuelas durch den Präsidenten diffamiert werden, weil es das simplifizierte ideologische Weltbild so sehen will. Es geht – und das hat der aktuelle Wahlkampf der Regierung gezeigt – um die Revolution, den Aufbau eines neuen Vaterlands, um die Liebe zum Präsidenten – und um den Kampf gegen die Gegner: Die USA, die Imperialisten, die Bourgeoisie, die konservative Oberschicht, die Ausbeuter. Kann hier eine Gemeinde verständlich machen, dass sie diesen staatlichen Heilsanspruch kritisch sehen muss, weil sie es ablehnt, ihr Zentrum, das eine Wort Gottes in Jesus Christus, mit einer politischen Weltanschauung zu vermischen, gleichgültig, ob sich dieser Extremismus mit einem Gewand auf rechts oder links verkleidet? Darum versuchen wir hier bei uns eine Kultur der Toleranz zu pflegen. Eine Kultur, die jedem selbstverständlich das Recht auf seine politische Überzeugung zuspricht. Und im realen Gemeindeleben ist die persönliche politische Orientierung des einzelnen ohnehin unerheblich. Wir als Kirche leisten Hilfe in und außerhalb unserer Gemeinde und versuchen, pragmatisch in Projekten für Bildung und Krisenhilfe mitzuwirken. Gleichzeitig – wenn auch ganz vorsichtig – wagen wir auf die Wahrung der Meinungsfreiheit und der Menschenrechte jenseits des Kirchturms zu schauen. Und nicht zuletzt: Es gibt es mitten unter uns, ein aktives Gemeindeleben von den Kleinstkindern bis zum Seniorennachmittag.“