Die kleine Holzkirche steht in Argentinien in San Vicente. San Vicente ist eine von sieben Filialgemeinden einer Gesamtgemeinde. Die kleine Holzkirche konnte mit Hilfe des GAW saniert werden. Allerdings – eine Vision für den Gemeindeaufbau ist schwer zu erkennen, eher Mutlosigkeit. In San Vicente sind die Mühen evangelischer Diaspora in ländlichen Regionen zu spüren: Wie kann eine Gemeinde einladend sein, eine Vision leben, für gesellschaftliche Herausforderungen offen sein? Die evangelische Diaspora ist in neuer Weise durch Zerstreuung herausgefordert, indem sich gewachsene Gemeinden durch Abwanderung vom Land in die Städte zerstreuen, wo es schwierig ist, die entwurzelten Menschen wieder gemeindlich zu sammeln.
Ein neues Buch in der Reihe „Die Evangelische Diaspora“ ist erschienen unter dem Titel: „Die evangelische Diaspora in Stadt und Land.“ Das Titelbild allein schon ist ein Hinweis darauf und eine Illustration dazu:
Das Inhaltsverzeichnis des Aufsatzbandes bildet die Konzeption des Bandes ab: Grundsätzliche Überlegungen (I.) betreffen den Kontext des Themas in religionssoziologischer Sicht. Gert Pickel vermisst das Feld der Diaspora neu unter Berücksichtigung der aktuellen Prozesse von religiöser Pluralisierung, Säkularisierung und Migration – eben diese Faktoren betreffen die Diasporakirchen weltweit, wie an den Beiträgen zu einzelnen Ländern deutlich wird.
In einem weiteren Grundsatzartikel geht Oliver Engelhardt der Frage nach, wie denn der ländliche Raum überhaupt zu beschreiben ist und welchen Veränderungen er unterworfen war und ist. Welche Rolle spielen die Kirchen in ihm? Diese Frage spiegelt sich in vielen Einzelbeiträgen in diesem Band wider.
Kerstin Menzel entwickelt dazu theologische Überlegungen, die eine spezifische Tradition im ostdeutschen Protestantismus haben, anhand des Studiendokuments der GEKE zur Diaspora weiter und konkretisiert diese Überlegungen anhand der Neunutzungen von Kirchengebäuden im ländlichen Raum im Sinne einer „offenen und öffentlichen Kirche“ – dies steht gegen den Trend des kirchlichen Rückzugs aus der Öffentlichkeit.
Länder- bzw. kirchenbezogenen Einzelbeiträge lassen sich in zwei Tendenzen einordnen: unumkehrbare Landflucht (II.) und Gestaltung ländlicher Räume (III.). Jens Hansen berichtet, wie kleine ländliche Waldensergemeinden in Süditalien durch Abwanderung infolge der immer schlechter werdenden Lebensbedingungen noch kleiner werden und schließlich verschwinden. Für Bolivien beschreibt Emilio Aslla Flores ganz ähnliche Vorgänge, wobei hier die Verschlechterung der natürlichen Lebensgrundlagen auch ökologisch bedingt ist. Ganz ähnlich sind die Verhältnisse in Paraguay: Nicolás Rosenthal arbeitet als Gründe für die Landflucht die Verschuldung und Verarmung der Bauern heraus. Und überall wird deutlich, dass die Abgewanderten sich nicht neu in den Städten sammeln und dort die Gemeinden verstärken, sondern der Kirche verlorengehen.
Solchen Beiträgen, die einen Niedergang des kirchlichen Lebens diagnostizieren, stehen andere gegenüber, die davon berichten, wie Herausforderungen als Gestaltungsaufgabe der Kirchen wahrgenommen werden. So berichtet Thomas Schlegel von kirchlichen Aufbrüchen in den zahlreichen und weit ausgedehnten ländlichen Regionen Ost- bzw. Mitteldeutschlands, die auch religiöse Aufbrüche sind, ohne evangelikal zu sein. Dazu trägt auch die Initiative von Menschen vor Ort bei, die sich für entsprechende Projekte engagieren.
Einen etwas anderen Fokus hat der Beitrag von Leon Novak zu Slowenien bzw. zum Übermurgebiet im Nordosten des Landes. Hier spielt Arbeitsmigration in andere Regionen oder in die Nachbarländer eine große Rolle, was auch zur Landflucht beiträgt. Natürlich leidet auch das kirchliche Leben der Diasporagemeinden darunter, die aber zielgruppenorientiert neue Aktivitäten entfalten. Davon berichten auch zwei Beiträge aus Ungarn, wobei hier die Integration der Kirchengemeinden in die dörflichen Gemeinschaften eine wichtige Rolle spielt. Áron Kocsis nimmt als Ausgangspunkt seine Überlegungen den Befund, dass reformierte Identität in Ungarn vor allem ländliche Identität ist und dass auf dem Land die religiöse Bindung ohnehin stärker ist. Dementsprechend sind die reformierten Gemeinden trotz ihrer Diasporaexistenz auch eng mit dem Land verbunden, wo sie das soziale Leben mit eigenen Projekten fördern. Dieser Sachverhalt spielt auch in dem Beitrag von György Gregersen-Labossa aus lutherischer Sicht eine wichtige Rolle. Hier geht es nicht zuletzt darum, dass die Kirchengemeinden sich am Programm der ungarischen Regierung zur Entwicklung des ländlichen Raumes beteiligen, wofür sie ihrerseits staatliche Unterstützung bekommen können.
Auf die gesellschaftlichen Herausforderungen fokussiert sind die Beiträge einer weiteren Sektion (IV.). Für Frankreich werden durch Nicolas Cochand die Folgen der Migration und des gesellschaftlichen Wandels für die evangelische der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, die allerdings nicht auf die Integration in eine Kirchengemeinde zielt. Offen ist die Arbeit an der Kirche vor allem für Menschen, die kommen und gehen. Eine besondere Zielgruppe sind Schulklassen, für die es ein kirchenpädagogisches Angebot gibt.
Ganz anders sind die Herausforderungen der Urbanisierung für die Evangelische Kirche am La Plata. Karla Steilmann und Guillermo Perrin zeigen in ihrem Beitrag, dass die Gemeinden der IERP zwar vor allem im ländlichen Raum zu Hause sind, dass aber die Landflucht diesen Zustand inzwischen stark verändert hat. Auch hier ist es aber so, dass sich die Abgewanderten nicht neu in städtischen Kirchengemeinden sammeln, sondern sich in der Stadt zerstreuen. Aber auch in der IERP gibt es Projekte, die Zugewanderte kirchlich neu integrieren sollen.
Das Gleiche versucht die Lutherische Kirche in Brasilien, über die Marcos Jair Ebeling und Emilio Voigt berichten: Die städtischennDiasporagemeinden versuchen durch eine Willkommenskultur zugewanderte evangelische Christen zu integrieren und ihnen in ihrer neuen und häufig von Armut geprägten Lebenssituation zu helfen.
Einen eigenen Charakter hat der abschließende Beitrag, der auf der Grundlage von Berichten des im österreichisch-slowakischen Grenzgebiet arbeitenden Pfarrers Marek Žaškovský verfasst worden ist. In diese Region sind auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum slowakische Familien gezogen, unter denen auch solche evangelischer Konfession sind. Der Schwerpunkt der Tätigkeit von Marek Žaškovský liegt im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit und der Integration der Zugezogenen in die schon bestehenden Kirchengemeinden.
Wir hoffen, dass dieses neue Buch aus dem Verlag des GAW eine breite Leserschaft findet, denn wir stehen bei uns vor ähnlichen Herausforderungen – auch davon ist in dem Buch die Rede.
Herausgegeben ist es im Auftrag des GAW von Klaus Fitschen in Zusammenarbeit mit Martin Dutzmann, Mario Fischer, Klára Tarr Cselovsky und Enno Haaks zum Preis von 7,50 € (228 Seiten – ISBN: 978-3-87593-136-5).
Wir hoffen, dass das Buch eine breite Resonanz findet in den Landeskirchen und in den GAW-Hauptgruppen. Bitte senden Sie diese Mail gerne weiter.
Zu bestellen ist es unter verlag@gustav-adolf-werk.de
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