Segen

… so war am 27. Oktober der Konfirmationsgottesdienst in der lutherischen Versöhnungsgemeinde in Santiago de Chile überschrieben. Wie wichtig ist das in der derzeitigen Lage im Land. Seit über einer Woche befindet sich das Land im Ausnahmezustand. Vor Kurzem demonstrierten mehr als 1,2 Millionen Menschen in der Innenstadt um Veränderungen im Land. Bis vor Kurzem war es kaum vorstellbar, dass in Chile so viele Menschen aufstehen, um für dringend notwendige Veränderungen einzutreten.

Pastor Johannes Meckel von der Versöhnungsgemeinde beschreibt die Situation so:

„Mitte Oktober sprach der chilenische Präsident Sebastián
Piñera noch davon, dass sein Land eine „Oase“ inmitten eines
(Krisen)geschüttelten Lateinamerikas sei. Und das konnte man nachvollziehen –
nicht nur mit Blick auf die abschreckende Lage in Argentinien, Brasilien,
Ecuador oder Venezuela. Nein, Chile hat in den letzten Jahren tatsächlich eine
beachtenswerte wirtschaftliche Entwicklung genommen und auch die Demokratie
wirkt 30 Jahre nach Ende der Diktatur gefestigt und stabil.

Dazu half nicht nur kluge Politik, sondern auch ein
beispielloses Wachstum. Der unter Augusto Pinochet eingeschlagene Kurs der
strikten Privatisierungen und möglichst geringen staatlichen Einmischung in
wirtschaftliche Belange, hat neben den großen Gewinnen aus der Kupferförderung
nach Meinung vieler, diese Entwicklung ermöglicht.

Die Schattenseiten dieses Modells haben nun aber Proteste
heraufbeschworen, die nicht nur zur Ausrufung des Ausnahmezustands in weiten
Teilen des Landes führten, sondern Präsident Piñera höchst selbst sprach
plötzlich nicht mehr von „Oase“, sondern von „Krieg“.

 Die Erhöhung der Metropreise in Chiles Hauptstadt Santiago
in der letzten Woche war dabei der berühmte Tropfen, der das Fass zum
Überlaufen brachte. Der wirtschaftliche Kurs und die konsequente Privatisierung
aller Güter von der Bildung bis zum Wasser, von der Rentenvorsorge bis zur
Autobahn, führte nicht nur zu vielen Aufstiegsmöglichkeiten, sondern auch zur
immer größeren Ungleichverteilung der Einkommen. So liegt das monatliche
Einkommen von mehr als der Hälfte der Chileninnen und Chilenen unter 530€ – und
das bei Lebenserhaltungskosten, die in Vielem mit europäischem Niveau vergleichbar
sind.

Militär in den Strassen Santiagos

Die hohen Ausgaben für Bildung oder Kredittilgung, kürzlich
10% gestiegene Stromkosten: selbst in der Mittelschicht reicht bei vielen das
Gehalt nicht bis zum Ende des Monats und der mit der Wahl des amtierenden
Präsidenten erhoffte wirtschaftliche Aufschwung ist ausgeblieben. Stattdessen
haben große Korruptionsfälle in Politik, Polizei und Militär das Vertrauen in
den Staat erschüttert und die oft milden Gerichtsurteile dazu das Gefühl
verstärkt: „die da oben bedienen sich und wir hier unten müssen zahlen, zahlen,
zahlen.“ Schon seit langem wuchsen Frust und Wut, bei manchen auch einfach die
Verzweiflung oder das Gefühl von Ausweglosigkeit.

Seit der von außen betrachtet geringen Fahrpreiserhöhung der
Metro bricht sich all das Bahn. Und nicht nur in Santiago! Die Plätze der größeren Städte im ganzen Land füllen sich mit größtenteils friedlichen Demonstranten. Selbst die gut verdienenden
Minenarbeiter solidarisieren sich und wollen in den Streik treten. Beides gibt
es selten in Chile: dass Proteste weithin gewaltfrei ablaufen und dass sich
über eine lokal oder sozial beschränkte Gruppe hinaus viele Menschen
beteiligen. 

 Leider ist aber auch ein hässliches Gesicht der Proteste
sehr präsent, wobei niemand sagen kann, ob dies wirklich einen inhaltlichen
Bezug hat oder hier vielmehr gezielt die Situation genutzt wird, um ganz andere
Ziele zu verfolgen: Am vergangenen Freitag brannten zahlreiche Metrostationen
in Santiago, so dass bis auf weiteres nur noch eine der für das Funktionieren
des Nahverkehrs zentralen Linien in Betrieb ist. Seit dem kommt es trotz
nächtlicher Ausgangssperre immer wieder zu Plünderungen und Verwüstungen durch
gezielt gelegte Brände. Dabei sind bisher schon über zehn Menschen ums Leben
gekommen. Und auch der Einsatz von Polizei und Militär lief nicht immer
glimpflich ab, sondern es gab dabei Verletzte und Tote,
Menschenrechtsaktivisten berichten von Misshandlungen und ungerechtfertigter
Brutalität.

Das weckt natürlich bittere Erinnerungen an die
Militärdiktatur, in denen die Militärpräsenz auf den Straßen genauso normal
war, wie die häufig verhängten Ausgangssperren. Allein die Worte „toque de
queda“ (Ausgangssperre) rufen bei Manchen körperliche Reaktionen hervor, so
tief sitzt der Schrecken der Vergangenheit.

Und wer tagsüber gepanzerte Fahrzeuge und Soldaten auf den
Straßen und nachts riesige brennende Lager sieht, könnte tatsächlich an Krieg
denken. Aber dieses Wort trifft angesichts der überwiegend friedlichen Proteste
doch wohl kaum zu und so ist Präsident Piñera auch kräftig für seine Aussage
kritisiert worden.

Überhaupt spielt die Politik bisher keine gute Rolle. Die
pauschale Kriminalisierung der Proteste ist natürlich wenig hilfreich und wird
zum Glück langsam differenziert. Aber nach wie vor mangelt es an deutlichen
Signalen, die Fragen anzupacken, die die Protestierenden umtreiben.

Das wird auch nicht einfach werden, den Reformen werden
schwierig und eigentlich ist für Reformen wie die jüngst diskutiert Reduzierung
der Arbeitszeit auf 40 Wochenstunden weder im Staatshaushalt Geld vorhanden
noch bei den Unternehmen eine entsprechende Steigerung der Produktivität zu
erwarten.

Aber Chile hat in den vergangenen Jahrzehnten viel erreicht
und gerade die Regionen und soziale Schichten überspannenden Demonstrationen
zeigen, das ein breiter gesellschaftlicher Konsens besteht, dass Änderungen
nötig (und in der Akzeptanz von vielleicht auch persönlich negativen
Auswirkungen möglich) sind. Man kann nur hoffen, dass diese Tage im Nachhinein
nicht als sinnlos oder gar mit kriegerischem Ende in der Erinnerung bleiben
werden. Sondern als eine Oase, in der das Land letztlich mehr zu sich selbst
gefunden und Kraft getankt hat: für den schwierigen Weg in eine bessere
Zukunft.“

Wie sich Chile weiterentwickelt… das bleibt abzuwarten. Der Präsident hat jetzt umfangreiche Kabinettsumbildungen angekündigt. Die wesentlichen Reformen, für die die Menschen demonstrieren brauchen aber Zeit. Ob diese da ist…?

Zum Glück gibt´s den Segen! – Genau das ist es, was notwendig ist: im Spanischen heißt Segen Gutes sagen. Hoffentlich greift das Gute Raum, dass Frieden und Gerechtigkeit wachsen.