
Vor fünf Jahrzehnten erlebte die lutherische Kirche in Chile eine der tiefgreifendsten Zäsuren ihrer Geschichte. Nach dem Militärputsch am 11. September 1973 kam es zu intensiven Spannungen innerhalb der Kirche. „Die Vorgänge in Chile beschäftigen nach wie vor auch bei uns die Öffentlichkeit,“ heißt es im GAW-Magazin (GAW-Blatt, 1975, Heft 1, S.13). „Der Weg der evangelischen Minderheitskirche in Chile zwischen Leidenschaft und Vernunft verlangt zur Zeit sorgenvolles Warten; welche Hoffnung besteht in dieser Zerreißprobe?“
Und weiter heißt es nach einer Synode im Süden Chiles in Frutillar: „Die Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Chile in Frutillar hat die Versöhnung nicht gebracht. Zu schmerzhaft waren die Wunden, zu bitter die Enttäuschungen, zu tief das Mißtrauen in die Aufrichtigkeit des anderen nach monatelangem Streit um Bischof Helmut Frenz. Aber die achtzehn Delegierten, die die Synode verließen, haben mit ihren Gemeinden noch nicht endgültig die Kirche verlassen, sondern vorübergehnd ihre Mitarbeit aufgekündigt… Die endgültige Kirchenspaltung ist noch einmal vermieden worden.“ Und weiter heißt es zur Einschätzung der Lage: „In Frutillar haben schließlich immer mehr Delegierte erkannt, dass nach einer endgültigen Spaltung in einer Kirche der acht alten gemeinden, die 85 Prozent der Mitglieder umfassen, und drei Missionsgemeinden mit Resten der deutschen gemeinden keiner der beiden Teile mehr lebensfähig wäre. Sie brauchen einander, um aus der volkskirchlichen Vergangenheit in einer freikirchlichen Struktur die Zukunft einer lutherischen Kirche in Sendung und Dienst zu gewinnen und der Gefahr der sektiereischen Verengung zu entgehen.“ (ebd. S. 20)
Später im Jahr kam es dann zur Spaltung der Kirche. „Dabei gehören zu ihr nicht mehr Gemeiden, als hierzulande zu einem kleinen Kirchenkreis (12), nicht mehr Pfarrer, als in einer mittelgroßen deutschen Stdat arbeiten (16), aber weniger Gemeindemitglieder, als manche unserer Großstadtgemeinden zählt (22.000). Das sind 0,2 % der chilenischen Bevölkerung. Diese kleine Minderheitskirche trat aus dem windstillen Winkel eines sprachlich-kuturellen Gettos ins Licht der großen Öffentlichkeit, als sie nach der Machtübernhame durch die Militärs am 11.9.1973 mutig und entschlossen für Menschen in Not eintrat, die keinen Helfer, keinen Anwalt und Fürsprecher, aber viele und mächtige Gegner hatten. Hat sie sich mit dieser Aufgabe übernommen? Wird sie an dieser Verantwortung zebrechen? Kann sie die Zerreißprobe, in die sie in der Nachfolge ihres Herrn geraten ist, überstehen?“ (GAW-Blatt 1975, Heft 2, S. 11).
Die Spaltung der Kirche vollzog sich dann Mitte 1975. Die Laienvertreter der acht „alten Gemeinde“ hatten sich zu einem Koordinierungsrat zusammengefunden und an der Synode in Santiago de Chile nicht mehr teilgneommen. Die übriggebliebenen Gemeinden sprachen der amtierenden Kirchenleitung und Bischof Frenz ihr Vertrauen aus. Ein Vermittlungsversuch des kirchlichen Außenamtes war gescheitert. Die Laienvertreter beschlossen, „das Schicksal der Kirche und ihrer Gemeinden wieder in die eigenen Hände zu nehmen und vor fremden Einflüssen zu bewahren… Gelöst aus dem Joch der IELCH erhoffen die Gemeinden einen neuen Weg zum Besten unserer Evangelisch-Lutherischen Kirche in Chile anzutreten.“(GAW-Blatt 1975, Heft §, S. 9).
Die Spaltung der lutherischen Kirche in Chile entstand nicht aus einem einzigen Konflikt, sondern aus einem Geflecht theologischer, politischer und organisatorischer Spannungen. Während ein Teil der Gemeindeleitungen eine eher unpolitische Haltung einnahm, sahen andere Pastoren und Gemeindemitglieder die Kirche stärker in der Pflicht, Menschenrechtsverletzungen klar zu benennen und Schutzräume für Verfolgte zu bieten. „Dies konte kein leichter… Weg sein, wenn eine traditionell um ihre Identität besorgte Kirche erste Erfahrungen von Solidarität und erste Schritte zu ihrer praktischen Konkretisierung wagte. Kirchenspaltung hilft hier nicht weiter, sondern gleicht einer Kapitualtion vor der Aufgabe. … Sie hätten es nur miteinander schaffen können, indem einer den anderen ernstnimmt, annimmt und notfalls auch erträgt in der einen Kirche, die weder den Deutschen, noch den Chilenen, weder den Pastoren, noch den Laine, sondern dem Herrn Christus gehört und gehorcht.“ (GAW-Blatt 1975, Heft 3, S. 11).
In dem GAW-Blätter des Jahres 1975 spürt man die Sorge um die ehemals eine lutherische Kirche. 1975 bedeutet der Bruch in eine IELCH (Iglesia Evangélica Luterana en Chile) und eine ILCH (Iglesia Luteran en Chile). Es gab immer mal wieder Versuche, dass die beiden Kirchen wieder zusammenkommen. Schmerzhaft sind diese immer wieder gescheitert. Vor wenigen Jahren führte das dazu, dass die Gemeinde in Concepción aus der IELCH austrat und schließlich in die ILCH eintrat. Beide Kirchen sind kleiner geworden und ringen um die Frage, wie die Zukunft aussehen kann, welche missionarischen und diakonischen Aufgaben sie wahrnehmen kann – und wie sie sich zu gesellschaftlichen Herausforderungen stellt.
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