Willkür prägt den Alltag

Nach der umstrittenen Präsidentenwahl in Belarus im Jahr 2020 ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen Demonstrierende vor. Es gab massenhaft Verhaftungen und Misshandlungen. Nicht nur in der Hauptstadt Minsk gab es Demonstrationen. Pfarrer Wladimir Tatarnikow berichtete damals aus Grodno/Hrodna, dass es mehrere Tage kein Internet gab. Die lutherische Kirche war permanent geöffnet für Menschen, die vor der Gewalt der Sicherheitskräfte flohen. Die allgemeine politische Lage in Belarus hat sich seitdem nicht verbessert. Willkür und Unsicherheit prägen das alltägliche Leben. Niemand kann sich vor dem diktatorischen Regime sicher fühlen. „Dass das in der Mitte Europas geschieht, hätte ich nie gedacht“, schreibt der lutherische Pfarrer Wladimir Tatarnikow. „Wir verstehen uns als Teil der belarussischen Gesellschaft und wollen uns trotz aller Schwierigkeiten einbringen.“ So leisten die lutherischen Gemeinden Nothilfe für Familien, deren Angehörige in Gefängnissen sitzen oder die durch die Covid19-Pandemie in Not geraten sind.

Hilfe für Geflüchtete im Grenzgebiet

Die Not der Geflüchteten, die über Belarus in die EU zu gelangen versuchen, lässt die Menschen in Belarus nicht kalt. Die Gemeindeglieder in Hrodna/Grodno spendeten nach einem Gottesdienst warme Kleidung, Schuhe und Hygieneprodukte für diejenigen, die an der belarussisch-polnischen Grenze ausharren. Weitere notwendige Sachen wurden gekauft. Seit November 2021 hat Pfarrer Wladimir Tatarnikow mehrfach das provisorische Unterbringungszentrum an der belarussisch-polnischen Grenze besucht, gemeinsam mit Vertretern der katholischen Hilfsorganisation Caritas. Sie brachten Lebensmittelpakete für Kinder und Erwachsene, warme Kleidung und Hygieneprodukte mit.
„Wir sind eine Kirche, die den Menschen hilft. Das schließt Flüchtlinge mit ein, auch wenn es nicht allen gefällt“, sagt Pfarrer Tatarnikow.

Wiederaufbau der Gemeinde

Das Aufblühen der lutherischen Gemeinde in Hrodna nahe der polnischen Grenze nach der Sowjetära ist vielfach dem Engagement des Pfarrers Wladimir Tatarnikow zu verdanken. Derzeit zählt die Gemeinde rund 130 Gemeindeglieder. Die in der Sowjetzeit völlig heruntergekommene Kirche konnte dank der Hilfe des deutschen Staates wiederhergerichtet werden. Sie ist zudem ein wichtiges Zentrum für das Musikleben der Stadt geworden, seit 2014 die neue Orgel installiert wurde. Das GAW und weitere Partner haben geholfen, das Pfarr- und Gemeindehaus neben der Kirche zu sanieren, sodass die Pfarrfamilie dort eine Wohnung hat.
Die lutherische Gemeinde in Hrodna ist die einzige in Belarus, die über ein eigenes Gotteshaus verfügt. Der von der Evangelisch-Lutherischen Kirche Russlands ordinierte Pfarrer Wladimir Tatarnikow betreut jedoch neben Hrodna weitere Gemeinden in Minsk (20 Gemeindeglieder), Wizebsk (25 Gemeindeglieder) und Polazk (15 Gemeindeglieder). Die Gemeinden sind nicht in einer Kirche organisiert. Dafür bräuchte es zehn Gemeinden, die zuvor noch vom Religionsministerium anerkannt werden müssen. Visitatorisch unterstehen die Gemeinden und ihr Pfarrer dem Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Russlands.

Der Krieg in der Ukraine

Am Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine fand auch in der lutherischen Kirche in Hrodna ein Friedensgebet statt. „Die Menschen waren traurig, überrascht und bedrückt. Sie haben gefragt: ‚Was können wir tun? Unsere Stimmen sind so klein und schwach‘“, berichtet Pfarrer Tatarnikow. Es ist eine bittere Stimmung im Land, das nach der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020 wie in eine Art Schockstarre gefallen sei, so Tatarnikow. Alles wird kontrolliert, sogar für Kirchenkonzerte muss vorab eine Genehmigung offizieller Stellen eingeholt werden. Tatarnikow weiß, dass ältere Menschen, die sich vorwiegend durch Staatsfernsehen informieren, ernsthaft glauben, dass Putin gerade die Ukraine rettet. Und er kennt junge Familien, die Belarus aus Angst verlassen, dass Reservisten eingezogen und in den Krieg geschickt werden. Gegensätzliche Meinungen gibt es auch in der Gemeinde. „Es ist für uns eine verwirrende Situation. Wir sind drei slawische Länder, wir besuchten uns gegenseitig, jeder hatte Kontakte … Das Ganze kommt uns einfach nicht real vor.“
Das Friedensgebet in Hrodna hat der Pfarrer unter ein Wort aus dem Markusevangelium gestellt: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ „Es ist eine mächtige Zusage“, sagt er. Und gepredigt hat er auch von den Posaunen von Jericho, die alle Mauern zum Einsturz brachten.

Das GAW ist seit Jahren ein verlässlicher Partner der Gemeinde. Gemeinsam mit anderen Organisationen hat es mehrfach die Sanierung der Kirche und des Pfarrhauses in Hrodna unterstützt, zuletzt auch die Anschaffung eines Autos für die Gemeinde. Im Jahr 2021 erhielt die Gemeinde 5 000 Euro Unterstützung für ihre Hilfe für Geflüchtete in Belarus.
Im Jahr 2022 will das GAW die Glaubensgeschwister mit 10 000 Euro unterstützen.