Rev. Joseph Kassab

„In den vergangenen Tagen habe ich viele Telefonate geführt und E-Mails erhalten, in denen uns unsere protestantischen Partner uns ihre Solidarität ausdrücken. Das berührt mich sehr und ist für unsere Kirchenmitglieder ein wichtiges Zeichen, dass sie nich verlassen sind“, sagt im Telefonat der Generalsekretär Joseph Kassab von der National Evangelical Synod of Syria and Lebanon (NESSL).

Er berichtet von den Auswirkungen der fürchterlichen Explosion, die ein Fünftel der Stärke der Detonation von Hiroshima gehabt haben soll. „Wäre die Explosion mitten in der Stadt gewesen… nicht auszudenken! So entlud sich die Hälfte der zerstörerischen Kraft auf dem Meer. Trotzdem: Eine weitere Katastrophe für unser gebeuteltes kleines Land…“ sagt Kassab.

Die von der Explosion am stärksten betroffenen ärmeren Stadtviertel von Beirut, nahe des
Hafens, sind mehrheitlich von Angehörigen der christlichen Minderheit bewohnt; aber auch in den benachbarten muslimischen Vierteln sind die Schäden groß. Die große Zahl der Verletzten überfordert die schon durch Covid-19 überlasteten Krankenhäuser vollends. Zugleich berichten viele Betroffene von einer an Wunder grenzenden Bewahrung ihres Lebens bei der Zerstörung ihrer Wohnungen. Von nur 150 Toten wird berichtet. 4.000 Verletzte gibt es. Noch gibt es Vermisste. 

Eingang zur armenischen Kirche

Tausende Menschen stehen jetzt buchstäblich auf der Straße. Durch die Zerstörung des Hafens ist aber auch die lebenswichtige Versorgung des ganzen Landes mit Nahrungsmitteln unterbrochen. Hoffnung machten in den Nachrichten Bilder von jungen Leuten, die sich aus freien Stücken um Aufräumarbeiten und um die Versorgung Notleidender kümmern: „Wir übernehmen jetzt die Aufgaben, denen der Staat nicht nachkommt“, sagen sie.

Doppelt schwer ist die Lage für die vielen Flüchtlinge im Land; es sind weit über eine Million Menschen, vor allem aus Syrien. Bei sechs Millionen Einwohnern hat gegenwärtig kein Staat im Verhältnis zur Einwohnerzahl mehr Flüchtlinge aufgenommen als der Libanon. Es gibt mehr syrische Kinder im Schulalter im Land als libanesische. In der Arbeit für Flüchtlinge, insbesondere der Beschulung der Kinder, sieht die NESSL ihre vorrangige diakonische Aufgabe.

Wie andere Kirchen im Land, so hat auch die NESSL in den letzten Monaten ihre Kritik an der Regierung verstärkt, die Misswirtschaft und Korruption angeklagt und sich mit den mehrheitlich jungen Demonstrant*innen solidarisiert. Es ist zu vermuten, dass die Explosion im Hafen – allem Anschein nach durch ein System notorischer Verantwortungslosigkeit verursacht – ein historischer Wendepunkt für den Libanon werden wird. Aber wie wird die Zukunft dieses ebenso schönen wie malträtierten Landes aussehen? Allzu lange haben es die um die Vorherrschaft in der Region kämpfenden Mächte zum Spielfeld ihrer mörderischen Konkurrenz gemacht. Tritt nun ein, was Joseph Kassab als Schreckensvision vor Augen steht: Wir sind ein bankrottes Land, auf dem Weg zu einem gescheiterten Staat. Oder kann von diesem absoluten Tiefpunkt her im Libanon ein politischer Neuanfang gelingen?

Zunächst wird es schlicht darum gehen, genug finanzielle und logistische internationale Hilfe zum Überleben der Geschädigten und der Armen im Land zu mobilisieren: „Wir brauchen Geld für die Reparatur von Gebäuden, für medizinische Hilfe und für Lebensmittelhilfe“, sagte Joseph Kassab gestern in einem Interview mit dem amerikanischen Portal „Christianity Today“. Und im Blick auf die politische Perspektiven fügte er hinzu: „Was wir überhaupt nicht brauchen können, wären Auseinandersetzungen, die sich zu einem neuen Bürgerkrieg auswachsen könnten wie in Syrien. Mit allem, was von außen kommen mag, werden wir fertig. Aber interne Konflikte würden das Land zerstören.“ Wörtlich: „The most important thing is for Lebanon to have peace with itself.“ („Für den Libanon ist es am wichtigsten, Frieden mit sich selbst zu haben“)

Zerstörtes Altarfenster in armenischer Kirche

Joseph Kassab bekräftigt, dass seine Kirche ihrer historischen Mission treu bleiben wolle: Mit ihrem Zeugnis und ihrer Praxis möchte sie Ferment einer besseren Zukunft für das ganze Land sein, in der es Bildung für alle gibt und ein respektvolles Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen und Religionen geübt wird:

„Dafür wir wollen wir das Bewusstsein unserer Brüder und Schwestern im Westen schärfen“, sagt Joseph Kassab: „Wir haben in diesem Land eine gemeinsame Mission, die vor 200 Jahren begann, ein gemeinsames geistliches Erbe. Steht auch Ihr jetzt dazu?“ Gegen die Befürchtung, dass diese Katastrophe zu einem verstärkten Exodus gerade der Christen aus dem Libanon führen könnte, appelliert er an die Gemeinden der NESSL: „Inmitten
dieses Schmerzes müssen wir eine bessere Kirche werden. Wir sind nicht
dazu berufen, in den Kirchenbänken zu sitzen, sondern für Christus
Zeugnis abzulegen und für das Reich Gottes zu arbeiten.

(Quelle: Brief von Kirchenpräsident Dr. Martin Heimbucher von der Reformierten Kirche ergänzt durch Notizen aus einem Telefonat des GAW-Generalsekretärs Pfr. Enno Haaks mit Joseph Kassab)

Das GAW unterstützt die beiden evangelischen Kirchen im Libanon, damit sie ihre Gebäude wieder herrichten können. Das ist ein Zeichen: Sie wollen im Land bleiben!


Wir bitten dabei um Unterstützung: 

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