In der Nacht ist es in Odessa wieder laut geworden. „Man hört wieder betrunkene Studenten schreien“ – erzählte meine Frau. Sie freut sich darüber, obwohl sie keinen festen Schlaf hat. Bis vor einigen Tagen, ist es ungewöhnlich still gewesen. Wir hatten den Eindruck, die Stadt habe den Atem angehalten. Es ist etwas Schreckliches passiert. Bei den gewaltsamen Auseinandersetzung haben 46 Menschen ihr Leben verloren. Bis heute fragen wir uns, wie so etwas in einer der friedlichsten Städten unseres Landes möglich war…

Man versucht es im Nachhinein irgendwie zu erklären: die Pro-russischen Anhänger haben eine friedliche Demonstration von Fußballfans angegriffen, dann wurde geschossen, einige starben vor den Augen ihrer Freunde, nahe zu hingerichtet. Die Polizei steht unbeteiligt neben der grausamen Szenerie. Hass kommt auf, schreckliche Wut und so werden aus Opfern Täter: Die Maidananhänger greifen nun die pro-russischen Aktivisten an. Erklären kann man dieses Geschehen teilweise, doch begreifen kann es noch immer niemand… 46 Menschen tot! Warum? Seit dem zweiten Mai haben wir eine zerrissene Stadt. Besonders habe ich dies am folgenden Tag im einer Livesendung im regionalen Fernsehen gespürt.

Es ist mir noch nie so schwer gefallen Worte zu finden, als die Anrufe von Betroffenen kamen. Es ist generell nicht leicht, einen trauernden Menschen zu trösten. Wenn dieser Mensch aber noch nach Rache sucht, wird man ganz still und ringt nach Worten. Dann kamen die Trauerfeiern mit den Parolen: „Wir vergessen nicht, wir verzeihen nicht.“ Da ist uns als Kirche klar geworden: mit Versöhnung können wir noch nicht beginnen. Erst müssen diese schrecklichen Wunden verheilen. Es ist sehr bitter, die eigene Hilflosigkeit hinnehmen zu müssen. So haben wir

Ökumenisches Gebet in Odessa

uns auf das Nötigste und erstmal vielleicht auch Wichtigste beschränkt: den verletzten Menschen in den Krankenhäusern zu helfen. Unsere Hotline, die wir nach den ersten Todesfällen am Maidan in Kiew eingerichtet haben, war nun sehr gefragt. Die Menschen, die nach psychologischer Beratung gesucht haben, konnten wir an unsere freiwilligen Psychologen weiter leiten. So genesen die Menschen zunächst an Leib und Seele.

Diese erste Hilfe am Menschen wird noch monatelang sehr wichtig sein. Wir wollen neben der Hotline, auch Gruppentherapien und Vorträge zur Bewältigung der Krisensituationen einrichten. Nicht mehr nur die direkt von der Gewalt Betroffenen suchen nach Hilfe. Es greift eine regelrechte Welle der Angst um sich. Menschen wie Du und ich geraten in Panik. Durch die vielen ungefilterten Informationen werden die Menschen schier verrückt vor Angst und verlieren ihre psychische Stabilität.

Gott sei Dank hat sich unsere Kirche schon in der Zeit des odessitischen Maidans an vielen Orten von friedlichen Kundgebungen gezeigt. Wir haben uns nicht auf Römer 13 reduziert und den absoluten Gehorsam vor der Obrigkeit gelebt. Wir haben zusammen gehalten, uns ermutigt und gestärkt! Hierdurch ist Vertrauen zu uns gewachsen und wir sind nun in der Lage zu helfen, ohne erst Misstrauen abbauen zu müssen. Wir haben für unser politisches Engagement auch viel Kritik geerntet. Das sind dann herbe Rückschläge. Aber ich erinnere mich auch wie ein orthodoxer Priester zu mir kam, begeistert von Bonhoefer und Dorothee Sölle erzählte… Für mich eine Bestätigung für die tätige Kirche. In der Versöhnungsarbeit haben wir alle unsere Grenzen erkannt und nach Hilfe gesucht. So kam es zu einem Bund der so naheliegend wie unmöglich ist: alle Konfessionen Odessas rücken zusammen! Moslems, Juden, Christen jeglicher Konfession, Hindus, Krishnaiten: Alle zusammen beten wir auf einer öffentlichen Kundgebung für Frieden, für die Menschen, für die Ukraine. Ein unglaubliches Gefühl! Und doch muss ich ehrlich sagen, dass ich nicht nur hieraus große Hoffnung schöpfe, sondern auch aus den laut singenden Studenten nachts in unserem Stadtviertel. – Pfarrer Andreas Hamburg, Odessa/Ukraine