Auf Einladung des Synodenpräsidenten der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine (DELKU), Pastor Alexander Gross, besuchte Regionalbischof Johann Schneider im August 2024 die Ukraine. Zusammen mit seiner Frau Ariane reiste Schneider, der zugleich Vorsitzender des GAW Mitteldeutschland und stellvertretender Vorsitzender des GAW der EKD ist, über Moldawien mit einem normalen Pendlerbus nach Odessa. Vom 8. bis zum 11. August lernten sie sowohl das Gemeindeleben in der Stadt als auch in den Dörfern in Petrodolynske und Nowohradkiwka kennen. Hier sein Bericht über diesen bewegenden Besuch.
„Wir haben in dieser Zeit vor allem die Arbeit mit Binnenflüchtlingen kennenlernen dürfen, die Pastor Gross und seine Helferinnen und Helfer in einer exzellenten Weise gestalten, indem sie den Geflüchteten die Möglichkeit geben, mit ihrer eigenen Hände Arbeit die Traumata der russischen Besatzung und der brutalen Erfahrungen, die sie, vor allem die Frauen, erleiden mussten, zu überwinden.
Ich war das letzte Mal 2006 in Odessa, als die Kirche St. Paul noch eine Ruine war. Jetzt ist sie wunderbar aufgebaut, und das Zusammenspiel von Kirche als Gebäude und dem sogenannten Business Center, also dem anschließenden Wirtschafts- und Ruhestandort, ist ausgezeichnet. Gleichzeitig haben wir in dem alten Pastorat, im Pastorshaus, eine interessante Ausstellung zu der Geschichte der Schwarzmeerdeutschen, vor allem auch der Kolonisten, die um Odessa herum angesiedelt worden sind, erfahren, die von einem jungen ukrainischen Journalisten initiiert wurde.
Die St.-Pauls-Gemeinde ist eine neue Gemeinde, da mit Kriegsbeginn fast alle Gemeindeglieder geflohen sind, und ist heute eine sehr stark musikalisch geprägte und intellektuell aufgeschlossene, sehr in die Stadt hinein wirkende Gemeinde, vor allem der musikalische Teil durch die Organistin Veronika Struck und die vielen Schülerinnen und Schüler, die sie als Mitarbeiterin der Oper und des Konservatoriums einlädt.
Wir haben am 11. August einen gemeinsamen Abendmahlsgottesdienst nach der lutherischen Ordnung gefeiert und waren anschließend noch zu einem Gespräch.
Die Stadt Odessa ist eine wunderbare Perle am Schwarzen Meer. Man sieht, wenn man durch die Stadt geht, die Wunden der Angriffe, wobei das Meiste schon überdeckt worden ist, vor allem mit Platten, und die kaputten Fensterscheiben wurden mit Holzspannplatten verdeckt. Der Hafen war zugänglich: Es ist offensichtlich so, dass die Ausfuhr des Getreides heute fast das Niveau erreicht hat wie vor Beginn des russischen Angriffs. Man sieht auch sehr, sehr viele Lkws, die auf dem Weg zum Hafen sind. Es ist wirklich eine sehr, sehr schöne Stadt.
In der Nacht vom Samstag auf Sonntag um 1 Uhr bekamen wir einen Fliegeralarm auf unsere Handys und verbrachten dann vier Stunden im Keller des Pastorats zusammen mit Binnenflüchtlingen, die in diesem Haus wohnen. Die Jugendlichen waren schon so trainiert, dass sie ihre Geräte dabeihatten und spielten, während die Mütter auf dem Kellerboden schliefen. Diese App funktioniert sehr gut und teilt präzise die Luftangriffe gegen die Ukraine mit, auch die Art des Angriffs – ob es Bomben sind oder Drohnen oder anderes Material. In der Stadt gibt es eine ganze Reihe von Schutzräumen, die man über einen QR-Code schnell finden kann.
Insgesamt ist spürbar, dass die Bevölkerung Odessas deutlich dem Angriff widersteht, auch emotional. Von einer Müdigkeit war nichts zu spüren, im Gegenteil: eine absolute Lebensfreude, die Straßen und Cafés waren voll. Wir waren am Samstag eingeladen in die Oper und danach gab es keinen Platz mehr in keiner Gaststätte. Wir haben schließlich in einem Jugendclub einen Platz gefunden.
Die Bevölkerung Odessas und auch die Gemeinde haben viele humanitäre Aktionen für die Menschen, die dem Angriff ausgesetzt sind. In den Gemeinden Petrodolynske und Nowohradkiwka (frühere Petersthal und Neuburg) werden mit Hilfe der verschiedenen Partner die Notleidenden in den Dörfern von der Gemeinde mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt.
Dieser Besuch war für mich ein Zeichen des geschwisterlichen Zeugnisses, dass wir die evangelischen Gemeinden in der DELKU im Krieg nicht vergessen haben und dass wir zusammen mit ihnen den Glauben und die Hoffnung teilen, dass es einen gerechten Frieden geben wird, in dem die Menschen dann in einer demokratischen Gesellschaft ihren Glauben und ihr Leben teilen können. Die Gemeindeglieder waren sehr dankbar für den Besuch: Es kommt ja jetzt eher selten vor, dass sich jemand nach Odessa aufmacht. Tatsächlich muss man sich, wenn man in die Ukraine fährt, an bestimmte grundliegende Regeln halten. Wenn der Luftalarm losgeht, muss man in einen Keller gehen, wobei die Ukrainer und Ukrainerinnen selber relativ schnell herausfinden können, wann und wo eine dieser Gleitbomben gestartet ist, und dann ausrechnen können, wie gefährlich sie ist. Auch das gehört zum Alltag in dieser pulsierenden modernen Stadt.
Wir haben auch das Museum des Genozids besucht, das in Zusammenarbeit mit verschiedenen Holocaust-Museen entstanden ist und den Holodomor, den Völkermord in den 1930er Jahren aufnimmt, bis hin zu den Gräueln in Butscha und in anderen Orten. Und wir haben Migdal besucht, das große jüdische Kulturzentrum in Odessa. Dort war für mich besonders beeindruckend, dass die Leiterin sagte, sie möchten den Kindern gerne zwei Wochen bombenfreie Zeit schenken, dass sie nachts nicht aufwachen. Daher sind sie dankbar, dass sie nach Rumänien kommen, koscher essen und einfach zwei Wochen in Frieden durchschlafen können.
Der Wochenspruch für diese Woche – „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen“ – ist ein gutes Hoffnungszeichen für die Not leidende Bevölkerung in der Ukraine und für die evangelischen Geschwister, denen wir im Gebet und darüber hinaus beistehen sollen und müssen, um Gottes und unser selbst Willen. Amen.“
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