Tella und ihre Mutter

Wenn derzeit an der Grenze zur Ukraine große Truppenaufmärsche stattfinden und ein Krieg droht, dann gilt es auch an die Geschichten des Leids zu erinnern, an Menschen wie Tella. Es ist die Geschichte einer Frau, deren Leben beeinflusst wurde durch den Krieg und die Vertreibungen in Russland, Kasachstan und der Ukraine. Was wird sie über die Kriegsgefahr denken …?

Tellas Geschichte:

Im Juni 1941 wurde die Sowjetunion durch Nazi-Deutschland
überfallen. Millionen an Opfern hat das hervorgebracht. Eine Folge des Überfalls war
der Deportationserlass vom 28. August 1941. Betroffen waren alle Deutschen in
der Sowjetunion.
894.626 Deutsche wurden laut Angaben des KGB der UdSSR bis zum 25. Dezember
1941  in der Sowjetunion zwangsweise umgesiedelt, die meisten
aus der Wolgaregion. Aus dem europäischen Teil der Sowjetunion wurden sie unter
menschenunwürdigen Bedingungen nach Kasachstan und Kirgistan, nach Sibirien und
dem Ural deportiert. Bereits auf dem Weg dorthin, vor allem aber in den
Zwangsarbeitslagern der so genannten „Trudarmee“ starben Hunderttausende
Russlanddeutsche, erlagen der Kälte und dem Hunger, mussten Schwerstarbeit
leisten, bis sie mit ihren Kräften am Ende waren.

Tella Emanuilowa Schmidt aus der ev.-lutherischen Gemeinde in
Berdjansk in der Ukraine ist eine der Überlebenden dieser Zeit. Ihr Leben kann stellvertretend
für viele stehen,

Anfang des 19. Jahrhunderts kamen ihre Vorfahren nach
Russland. In der Sowjetzeit
verloren alle deutschen Familien
mit der Kollektivierung ihren Besitz. Bei den Repessionen von 1937 unter Stalin wurden auch die
Großväter Tellas und deren Brüder ermordet. Als 1941 Tella und ihre Familie
deportiert wurde, gab man ihnen 24 Stunden. 16 kg Gepäck waren pro Person
erlaubt. Auf Viehtransportern der Eisenbahn wurden sie nach Kasachstan
deportiert. Ein Monat dauerte die beschwerliche Fahrt. Tellas Vater wurde in
die Trudarmee nach Sibirien verbannt.
Die Familie kam nicht wieder
zusammen.

Drei Jahre war Tella alt, als sie im
Gebiet Semipalatinsk in Kasachstan ankamen. Nur notdürftig fanden sie eine
Unterkunft in den Ruinen eines früheren Dorfklubs. Tellas Mutter bekam zudem Typhus. Folglich wurde sie von der
Großmutter Maria versorgt, die einer alten Pastorenfamilie angehörte. Sie war
es, die im fernen Kasachstan eine lutherische Gemeinde organisierte – unter hohem
Risiko. Männer gab es nicht. Maria taufte, konfirmierte, leitete Bibelstunden
und Gottesdienste. Das Leben blieb hart mit vielen Entbehrungen. Tella machte
einen Schulabschluss, heiratete, wurde selbst 1957 Mutter. Immer wieder gab es
Ortswechsel. Später war es möglich, sich wieder freier in der Sowjetunion zu
bewegen. So entschloss sich die Familie 1983, in die Ukraine zurückzukehren
nach Donezk. Zur Ruhe kam die Familie nicht – auch nicht nach dem Zerfall der
Sowjetunion. Im Juli 2014 wurde die Siedlung angegriffen. Die Familie verlor
die Wohnung. Schon wieder gab es einen Ortswechsel nach Berdjansk. Jetzt galten
sie als intern Vertriebene.

Die Geschichte von Tella ist eine von vielen Lebenswegen der
Russlanddeutschen. Eine Geschichte großer Entbehrungen, von Verlusten und Leid.
Sie selbst beklagt sich nicht über ihr Schicksal. Sie lebt einfach – und vor
allen Dingen die Gemeinschaft in der evangelischen Gemeinde und ihr Glaube helfen
ihr, nicht zu verbittern, sondern aus Hoffnung zu leben.

(nach einem Bericht über Tella aus „Der Bote – Ev.-Luth.
Zeitschrift“ N° 2/2021)