Matthias Burghardt (Tallinn)

„Estland gilt als eines der atheistischsten Länder in Europa – gemeinsam mit Tschechien und Ostdeutschland. Aber stimmt das…?“ fragt Pfarrer Matthias Burghardt nachdenklich. 13% der Bevölkerung gehören zu lutherischen Kirche, 14% zur orthodoxen Kirche. Burghardt ist Pfarrer einer deutschsprachigen und einer estnischen Gemeinde seiner Kirche. 

Er nimmt dann Bezug auf die spannende Kirchengeschichte der Estnischen Evangelischen-Lutherische Kirche (EELK). 1524 kam schon die Reformation ins Land und breitete sich schnell aus. Mit dem christlichen Glauben hatte man bisher immer eine Geschichte der gewaltsamen Missionierung verbunden. Die Reformation wurde als Befreiung erlebt. In der schwedischen Zeit blühte die Kirche zur Volkskirche auf. Dann unter dem russischen Einfluss erhielten die Deutschbalten Rechte, die es ihnen erlaubten, die Esten selbst zu Untertanen zu degradieren – auch in Kirchenfragen. Unter dem Einfluss Zinzensdorfs setzte sich schließlich eine pietistische Bewegung in der Kirche durch. Es entstanden Bethäuser, die die Frömmigkeit der Menschen in Estland prägte. Und vor allen Dingen förderte Zinzendorf die estnische Schriftsprache. Es entwickelte sich aus dieser pietistischen Tradition heraus eine sog. estnische Bauernaristokratie, eine Sänger- und Emanzipationsbewegung. 

Bis heute spielen die Sängerfeste mit bis zu 30.000 Chorsänger*innen eine große Rolle in der estnischen Tradition. „Und gerade hier spürt man auch eine tiefe religiöse Prägung – auch wenn bei weitem nur eine Minderheit zur Kirche gehört. Früher waren das die Kirchenchorfeste,“ sagt Pfarrer Burghardt. „Auch wenn diese Bewegungen mit der Kirche nichts mehr zu tun haben, so haben sie in der Kirche ihre tiefen Wurzeln.“

Zur Kirche werden ca. 160.000 getauften Lutheranern gezählt – wobei davon nur 29.000 Gemeindeglieder sind. Die EELK ist aufgeteilt in 12 Propsteien, 166 Gemeinden mit 43 Pfarrerinnen und 169 Pfarrern in Estland sowie in fünf Propsteien und 32 Gemeinden im Auslandsbistum (seit 2010). 

Der erste estnische Bischof wurde gewählt mit der Gründung der Estnischen Lutherische Kirche nach dem 1. Weltkrieg. Dann aber begann eine weitere schwierige Phase: der Weg eines unabhängigen Staates und einer Kirche mit damals 85% Kirchenzugehörigkeit endete abrupt mit dem Hitler-Stalin-Pakt. Es kam zu Flucht, Deportation, Vertreibung – und großem Leid.

„Die aktuellen Fragen drehen sich auch nach der Neugründung Estlands und dem Zerfall der Sowjetunion darum, wie die Kirche nach der Zeit der sowjetischen Unterdrückung aus einer Nischensituation herauskommt im Sinne von: bei uns sind die „wahren Christen“ und Bewahrer der reinen Lehre zu finden und die anderen gehören zu feindlichen Welt. Das ist eine große Versuchung in Osteuropa!“ sagt Burkhardt. „Die Sowjets haben die Kirche in die Nische gedrängt. Wollen wir da bleiben oder uns der Welt zuwenden, wie es der Ruf des Evangeliums ist, das uns befreien will von allen ideologischen Abhängigkeiten – auch den eigenen!“