„Du siehst mich“ – diese drei Worte stehen über dem am 24. Mai beginnenden Kirchentag in Berlin im Reformationsjubiläumsjahr. Drei Worte, die mitten in unsere Zeit gesprochen sind. Wenn man so will sind es helle Worte in dunkler Zeit. Im 1. Buch Mose spricht  die Magd Hagar die Worte in ihrer Wüstenzeit. Dort sagt sie: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ 

Hagar ist auf der Flucht. Sie, die Magd von Abrahams Frau Sara, ist schwanger. Das brachte Probleme. Mit dem Hochmut der Gesegneten blickte sie auf ihre Herrin, die unfruchtbar ist, herab. Da ist kein Gespür dafür da, wie es der nicht Gesegneten wohl geht. Wie überhaupt Menschen im Glück so oft das Gefühl für die anderen, die Unglücklichen, verlieren. So stichelte und demütigte Hagar Sara, die dann ihrerseits es Hagar zurückgab. Die Situation eskalierte. Hagar musste fliehen. Auf der Flucht in der Wüste erreicht sie eine Oase mit einem Brunnen. Hier wird die Geflüchtete von einem Engel, einem Boten Gottes, angesehen und angeredet. Engel verstehen sich auf das „Fürchte dich nicht“, aufs Mut machen und Weiterhelfen. Hagars Geschichte endet nicht in der Wüste. Der Engel verkündet Zukunft. „Gott hat erhört“ – Ismael soll der Sohn heißen. Inmitten der Orientierungslosigkeit und ihrer Wüstenzeit ist sie nicht verlassen. Und sie bekennt: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Das ist ein tief empfundenes Bekenntnis. Da geht es nicht um Moral oder den vohergehenden Hochmut oder irgendwelche Verfehlungen im Sinne, dass Gott alles sieht. Gottes Sehen und Wissen steht – so erlebt es Hagar – im Dienst des von ihm geschaffenen Lebens. Gottes Sehen steht im Dienst der Liebe und des Erbarmens.

Gabriele Mistral, chilenische Dichterin und Nobelpreisträgerin, schreibt in ihrem Gedicht „Scham“, das von der Begegnung mit einem Geliebten lebt. Da heißt es: „Wenn du mich anblickst, werd‘ ich schön“. Dann aber fährt sie fort, dass sie sich ohne diesen Blick des Geliebten „arm“ und „bloß“ fühlt, um dann einzumünden in die Bitte: „Senk‘ lange deinen Blick auf mich. Umhüll‘ mich zärtlich durch dein Wort.“

Das ist die Erfahrung, die Hagar in der Wüste macht. Sie erlebt, wie sie himmelwärts angeschaut und unverhofft wahrgenommen wird in ihrem Elend. Sie ist nicht allein. Und sie wird bewahrt mitten in der Wüste. Dafür steht der Brunnen, an dem sie ausruhen und sich stärken kann. Ein Brunnen, der den Namen bekommt: „Brunnen des Lebendigen, der mich sieht.“ 

Wenn das Zukunft eröffnende Wort und die lebensfreundliche Welt so zusammen kommen, wie bei der flüchtenden Hagar, dann stimmt das Bekenntnis: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ 

Das möge unser Bekenntnis werden – bei uns und in der weltweiten evangelischen Diaspora. Und es mögen bei uns freundliche Worte und die guten Dinge dieser Welt in unserem Leben so zusammen stimmen, dass wir bekennen können: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“