Luth. Hl. Dreiflatigkeitskirche in Liepaja

„In der gesellschaftlichen Entwicklung in Lettland ist eine Rückkehr zu sog. konservativen Werten zu beobachten“, sagt ein politischer Beobachter des Landes. „Dabei werden diese Werte gegen eine sog. Verwestlichung und liberales Denken ins Feld geführt.“ Das habe verschiedene Gründe. Zum einen ist der Bevölkerungsschwund in Lettland dramatisch. Junge Familien und gut ausgebildete Menschen, die in einer offenen und toleranten Gesellschaft leben wollen, verlassen das Land. Das führt zu einem massiven demographischen Problem. Die wirtschaftliche Entwicklung stagniert und zwingt auch viele Menschen auszuwandern. 52 Familien würden Lettland derzeit täglich verlassen. In dieser kritischen Situation besinne man sich auf konservative Werte. Das zeige sich am Umgang mit der sogenannte Istanbul-Konvention, das das lettische Parlament bis heute nicht ratifiziert hat. Am 1. August 2014 trat dieses Übereinkommen des Europarats über die „Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt“ in Kraft. In Staaten, die die Konvention ratifiziert haben, müssen alle staatlichen Organe – darunter Gesetzgeber, Gerichte und Strafverfolgungsbehörden – die Verpflichtungen aus der Konvention umsetzen. In Lettland wurde darüber kontrovers diskutiert, ob das Land die „Istanbul-Konvention“ unterzeichnen soll. Nach Auffassung des Justizministers stünde es im Gegensatz zur Verfassung Lettlands stehe. Dieselbe Meinung vertreten auch die Bischöfe der vier großen Kirchen in Lettland. Erzbischöfe der Römisch-Katholischen Kirche, der Lettischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, der Bischof der Lettischen Baptisten-Union sowie der Metropolit der Orthodoxen Kirche in Lettland sehen in der Konvention die Gefahr, Lettland einen gesellschaftlichen Wandel aufzuzwingen, der auf der Gender-Ideologie basiert, statt die wirklichen Ursachen der Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Als eine Reaktion darauf haben einige andere Kirchen und Organisationen ebenfalls einen offenen Brief verfasst und zur Unterzeichnung der Konvention aufgerufen. Dieser Brief wurde u.a. von Vertreterinnen und Vertretern der Anglikanischen Kirche, der Lettischen Lutherischen Kirche im Ausland, der lettischen Bibelgesellschaft, dem lettischen Theologinnenverband, der Theologischen Fakultät und der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Lettland unterzeichnet.

Das Kabinett hat der Konvention inzwischen zugestimmt – gegen die Stimme des Justizministers. Die Zustimmung des Parlaments steht noch aus. Hier scheint es Schwierigkeiten zu geben. Es gibt genügend Stimmen die traditionelle Werte gegen „Genderfragen“ ausspielen wollen. Immer wieder taucht dabei Homosexualität als kontroverses Thema auf. Die einzig verbliebene liberale Partei im Parlament kämpft mit internen Schwierigkeiten und hat zudem kaum noch Rückhalt in der Bevölkerung. 

Die Auseinandersetzung um die Konvention ist ein Ausdruck für die derzeitige gesellschaftliche Situation, die sich eben auch in den Kirchen wiederfindet. Gerade die Frage zu welchen Werten man stehen muss wird zur Streitfrage und erscheint manchmal wie eine Bekenntnisfrage. Eine offene Diskussion scheint schwierig. Wie ist auf der Basis eine gemeinsame kirchliche Zusammenarbeit möglich?