In der estnischen Zeitung der lutherischen Kirche erschien gerade ein Interview mit Marju Lauristin, Soziologieprofessorin. Sie setzt sich damit auseinander, wie die Entwicklung Estlands vom Übergang als frühere Sowjetrepublik zur Übergangsgesellschaft (von der Diktatur zur Demokratie) und weiter zu Infogesellschaft abgelaufen ist und was das für die Menschen im Land bedeutet.


Was sagen die Forschungen über Estland? 

1) Als die Estnische Republik nach der Wende wiedergegründet wurde, haben sich die Grundlagen entscheidend geändert. Einige Menschen haben die Veränderungen schnell angenommen, andere wieder konnten bei der schnellen Entwicklung nicht Schritt halten und mitmachen. Die Gesellschaft hat sich auseinanderentwickelt. Das ist für viele sehr bitter.  In der Wissenschaftssprache nennen wir das ein “gesellschaftliches Trauma”. Dieses wirkt fort und bedingt weitere neue Veränderungen. 

2) Wir sind in eine offene Welt geraten, wo gleichzeitig viele Veränderungen stattfanden. Die Technologie hat sich erneuert. Computer und Internet bieten ganz andere Möglichkeit, sich über die Welt zu informierten. Weiterhin gab es immer neue Anforderungen und Einflüsse für die Beziehungen, auch die Eltern- Kind-Beziehungen. Und das alles geschah sehr plötzlich. 

3) Globalisierung. Wir waren gewöhnt an unser kleines, wahrnehmbares, sowjetisches, nordisches Eckchen. Und nun wurde plötzlich alles sehr schnell anders. Die westliche, offene Welt war die Entwicklungen kontinuierlich vorbereitet, wir aber nicht. Alles kam in das Leben der Einzelnen so, dass sie vieles für sich neu beginnen und verstehen mussten. Es war schwierig, diese Fülle an Veränderungen zu verstehen, da die Menschen auch ihren jeweiligen Platz in der Gesellschaft unterschiedlich wahrnehmen. Die Jüngeren haben sich in einem bestimmten Sinne fortentwickelt. Junge und alte Generationen leben wie in verschiedenen Welten.

4) Generationenwechsel. Wenn eine Gesellschaft sich ruhig entwickelt, wachsen die Kinder, Enkel und Großenkel wie aus demselben Strom heraus. Wir aber hatten eine sogenannte Kulturunterbrechung. Die neue Gesellschaft ist in einer anderen Welt mit neuen Werten aufgewachsen als die alte. Und die ältere Generation hat das Gefühl, dass sie an der neuen Welt keinen Anteil mehr haben, dass ihre Erfahrungen und Wissen nichts mehr wert sind. Nun war die Lebenserfahrung war immer ein Grund für die Würde des Person. Diese Grundlage ist nun aber in dieser auseinandergebrochenen Gesellschaft fragwürdig und brüchig geworden. 

Vielleicht ist es eher ein Gefühl als eine bittere Wahrheit? 

Ja, das ist ein Gefühl. Wir brauchen eine andere Umgangsweise, wenn die Gesellschaft so auseinander gebrochen ist – in Bezug auf die finanzielle Lage, die Lebenserfahrungen der Menschen, im Blick auf verschiedene kulturelle Präferenzen und Nationalitäten. Wie kann man sich in der Situation noch als Este mit der Welt auseinander setzen? Wie kann man einander verstehen? Wie kann man miteinander inhaltlich im Gespräch bleiben? Jüngere klagen, dass die Alten ihre Erfahrungen nicht verstehen und dass sie damit alleine sind. Die Älteren spüren, dass sie sich den Jüngeren gegenüber nicht verständlich machen können. Die Sprachen gehen auseinander. Technikmenschen verstehen die Kulturmenschen nicht. Die einen meinen, dass Sozialbereiche eine Last sind und glauben, dass die Wirtschaft das Leben allein voranbringt. Dabei sehen sie nicht, dass es ja dieselben Menschen sind, die für Wirtschaft arbeiten und die direkt von dem jeweiligen Sozialbereich abhängig sind, zu dem sie gehören. 

Wie viele Menschen sind aus Estland nach Finnland ausgewandert?

Es gibt verschiedene Zahlen. Über Auswanderung reden Politiker und Wissenschaftler unterschiedlich. In der Politik fällt man Entscheidungen aufgrund von guter Hoffnung und nicht auf Grundlage wissenschaftlicher Demografie. Aber Politik darf man nicht auf Hoffnung bauen. Man kann ja persönlich sagen: “Ich will, dass es meinen Kindern gut geht.” Gut, dann gehen sie. Aber wer verdient in Estland die Renten, wer füllt die Rentenkassen? Und wer bezahlt die Rentner? Dieses Problem wird mal kommen. Sollen wir dann Immigranten einführen? Wir haben schon jetzt Schwierigkeiten mit Immigranten. Und es ist schwierig, die russischsprachigen Jugendlichen, die hier geboren sind, hier zu halten.


Wie integrieren sich ausgewanderte Esten – etwa in Finnland?

Finnland hat gesagt, es kann bis zu 200 000 Gastarbeiter aufnehmen. Aber die Frage ist, wie können wir hier solche Bedingungen schaffen, dass die Menschen bleiben wollen? Ich habe mit estnischen Familien in Finnland gesprochen. Sie schicken ihre Kinder in Finnische Schulen; obwohl Finnland auch den Unterricht auf Estnisch ermöglichen würde. Esten wollen sich schnell integrieren. Sie schämen sich für ihre Herkunft und wollen schnell ankommen. Das sind nicht die früheren Exil-Esten oder politischen Flüchtlinge. Diese Tendenz sieht man oft bei osteuropäischen Migranten. Sie integrieren sich schnell, um bloß nicht aufzufallen. 

Welche Untersuchungen haben sie positiv überrascht? 

Zahl ist Zahl, bevor sie nicht gedeutet wird. Sehr beeindruckend war die Sängerfest-Umfrage. Ca. die Hälfte aller Esten im Alter von 15-74 Jahren ist mindestens einmal in Leben als Tänzer oder Sänger auf dem großen Sängerfest aufgetreten. Das wir ein Volk der Sänger sind, ist keine Metapher. Ich würde sagen, auf dem Sängerfeld sammelt sich die größte Gemeinde um die gemeinsamen heiligen Werte. Es gibt ja immer Unkenrufe, dass die Sängerfeste nicht mehr zeitgemäß sind. Die Befragung hat aber gezeigt, dass für größten Teil alte und junge Esten das Sängerfest ein Fest des estnischen Volkes ist, wo man sich sammelt, um gemeinsame Werte zu feiern, um sich in der Gemeinschaft zu erleben. Dabei zu sein ist sehr wichtig: gemeinsam abheben von Alltag, zu den Werten, die mit unserer Vergangenheit verbunden sind. Die Gefühle dabei ähneln religiösen Gefühlen. Die Sängerfestbefragung hat gezeigt, dass das Bedürfnis nach dem Heiligen bei Esten sehr groß ist und dass dieses von diesen Traditionen gespeist wird. 

Kann das Sängerfest das Bedürfnis nach Glauben und Heiligung vollkommen abdecken?

Sicherlich nicht, aber es ist so überwältigend, dass man lange Zeit davon zehren kann. Und weil es regelmäßig stattfindet, kann man sich immer auf das neue Fest vorbereiten und sich freuen. Sängerfeste sind zeitgleich mit der Entstehung des estnischen Gemeinschaftsgefühls entstanden (2. Hälfte 19. Jh.). Davor wurde die Bibel ins Estnische übersetzt und die Allgemeinbildung umgestellt (früher deutsch und russisch). Sängerfest, das ist kein Konzert, sondern ein nationale Ritual. 

Welche sind ihre Erfahrungen mit den Pfarrern? Wer war für sie bedeutend. 

Ich habe als 26-Jährige einen Freund in Võnnu besucht. Ich saß an der Kirche und habe gelesen und mich auf die Philosophieprüfung an der Uni vorbereitet. Der junge Pfarrer Voldemar Ilja kam frisch aus Finnland und wir haben uns unterhalten. Seine Predigt war semiotisch und philosophisch gut durchdacht. Ich habe gefragt, ist es nicht zu hoch für die einfache Gemeinde. Seine Antwort haben mich als angehende Lehrkraft sehr beeindruckt: ”Meine Sorge ist auszusäen. Gottes Sorge ist es, dass es aufgeht.” 

Ein anderes Mal war Pfarrer Eenok Haamer mir sehr wichtig. In der Zeit der singenden Revolution. Es war eine schwere Umbruchszeit. Ich hatte viele wichtige Treffen mit vielen Menschen und bin ich ihm aufgefallen. Er kam zu mir nach Hause, hat mit mir gesprochen und mein Tun gesegnet. Es war für mich sehr wichtig und ich habe es in der Zeit so sehr gebraucht.

Anmerkung: Im diesjährigen Projektkatalog wird das Sängerfest in Tartu und der Evangelische Kirchentag unterstützt. (PK 2014, S. 63)