Paolo Naso

Am 4. Oktober 2013 kenterte vor der Insel Lampedusa ein hoffnungslos überfülltes Boot mit mehr als 530 Flüchtlingen an Bord. 368 Menschen starben. Es war nicht das erste, nicht das einzige und nicht das letzte tragische Unglück im Mittelmeer vor Italiens Küsten. Mehr als 30.000 Menschen haben in den letzten zehn Jahren den Tod im Mittelmeer gefunden auf der verzweifelten Suche nach einer lebenswerten Zukunft. Aber der 4. Oktober 2013 hat ein Projekt in Gang gesetzt, das heute zu einem der wichtigsten Player in der internationalen Flüchtlingshilfe zählt: Mediterranean Hope, MH, das Flüchtlingsprogramm der Vereinigung der Evangelischen Kirchen in Italien, FCEI. Der erste Koordinator war Prof. Paolo Naso.

Das Gespräch führte Nicole Dominique Steiner für die Zeitschrift Insieme/Miteinander der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien.

Professor Naso, 368 Menschen sind im Oktober 2013 vor Lampedusa ertrunken, 158 konnten gerettet werden …

Paolo Naso: Das Unglück vor Lampedusa hat etwas in Gang gesetzt. Augenzeugen waren die Fischer der Insel. Sie haben hilflos mit ansehen müssen, wie hunderte von Menschen starben. Sie haben 158 Menschen aus den Fluten gezogen. Sie haben, wo möglich, die Toten geborgen. Innerhalb der FCEI ist die Idee zu einem Projekt geboren, das mehr sein will als nur erste Nothilfe: Aufnahme, konkrete Hilfestellungen für den Aufbau einer Existenz und vor allen Dingen auch das Verhindern solcher Unglücksfälle. Wenige Monate nach dem Unglück wurde Mediterranean Hope gegründet. Seit 2014 ist MH als einzige Hilfsorganisation konstant mit zwei Mitarbeitern und Freiwilligen auf der Insel präsent.

Ein wichtiger Anlaufpunkt auch für die Inselbewohner, aber MH hat es nicht dabei belassen.

Paolo Naso: Nein. Unsere Aktion „Humanitäre Korridore“ zielt darauf, Menschen eine legale Einreise unter menschenwürdigen Bedingungen zu ermöglichen. Mehr als dreitausend Flüchtlinge sind so bereits nach Italien eingereist. Schon vor der Abreise mit einem gültigen humanitären Visum ausgestattet kommen sie mit dem Flugzeug nach Italien und finden sofort Aufnahme.

Ein Vorgehen, das im Vertrag von Schengen vorgesehen ist und das Beispiel gemacht hat.

Paolo Naso: Ja. Frankreich, Belgien und das Rheinland und Westfalen haben schon humanitäre Korridore eingerichtet.

Die Bevölkerung von Lampedusa steht hinter den Hilfsprojekten – ein in vieler Hinsicht positives Beispiel.

Paolo Naso: Lampedusa ist nicht nur letzte Hoffnung für verzweifelte Flüchtlinge, Lampedusa ist auch eine wunderschöne Insel im Mittelmeer, die dieses Jahr ein Plus von 75.000 Gästen verzeichnet hat. Das Leben der Insel geht weiter. Gemeinsam mit den Einwohnern arbeiten wir am Projekt „Memoria“. Ein wichtiger Aspekt für Hinterbliebene, die nicht einmal ein Grab zum Trauern haben. Das „Tor von Lampedusa – Tor zu Europa“ des Künstlers Mimmo Paladino ist ein Aufruf zur Erinnerung an die unzähligen namenlosen Toten. Ebenso wie das Projekt „Die Decke von Yussuf“. In Erinnerung an den nur sechs Monate alt gewordenen Yussuf und an alle anderen Toten werden kleine Deckchen gehäkelt für eine immer größer werdende Decke der Solidarität. Bewahrung der Erinnerung und Trauer, auch das ist eine Aufgabe für uns Kirchen.

Glaube verpflichtet zum Handeln. Auch zum politischen Handeln?

Paolo Naso: Ja und mehr noch: Er verpflichtet uns zum Optimismus. Wir können mit unserem Handeln etwas erreichen.

Kritiker sagen, einzelne Hilfsaktionen seien nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Paolo Naso: Als gläubiger Mensch ist für mich jede helfende Geste mehr als nur ein Tropfen … auch Jesus hat nur einzelne Personen geheilt. Die evangelischen Kirchen sind heute in Brüssel in ständigem Austausch mit den Regierungen Europas. Der einzige Weg, die illegale Einwanderungspraxis zu unterbrechen und dem Sterben ein Ende zu bereiten, ist die Eröffnung legaler Wege, sind die humanitären Korridore. Dafür stehen wir, das fordern wir. Wir dürfen nicht zulassen, dass Staaten Mauern errichten. Europa stirbt mit den Mauern.

MH ist längst nicht mehr nur auf Lampedusa aktiv…

Paolo Naso: In Scicli betreiben wir das „Haus der Kulturen“ für besonders gefährdete Kategorien von Flüchtlingen. Unbegleitete Minderjährige, alleinstehende Frauen, Familien. In Rosarno stehen wir den ausgebeuteten Landarbeitern zur Seite, die unter unmenschlichen Bedingungen und für einen Hungerlohn bis zu 20 Stunden am Tag arbeiten. Unser Projekt „Fair Trade“ unterstützt Unternehmen, die Arbeiter zu gerechten Bedingungen einstellen. Dutzende von Arbeitsplätzen konnten so geschaffen werden, pro Jahr werden 60 Tonnen „Etika“ Orangen verkauft.

Seit Beginn des Jahres 2021 ist MH auch in Bosnien aktiv, wo zigtausende Flüchtlinge der Balkanroute aus Afghanistan, Pakistan, Syrien gestrandet sind.

Paolo Naso: Wir haben im Februar zunächst zwei Mitarbeiter dorthin entsandt und ein geheiztes Zelt zur Verfügung gestellt. Vor allem aber geht es uns darum, auch in Bosnien humanitäre Korridore einzurichten, um den Menschen aus dieser verzweifelten Lage zu helfen. Wichtiger noch als die humanitäre Hilfe vor Ort ist die Forderung nach Schaffung bzw. Anwendung bereits bestehender und gerechterer Gesetze. Das Aufzeigen eines Weges. Der Aufruf zu Solidarität.

Wenn jeder Staat Europas oder wenigstens die 15 Schengen-Staaten ihr Kontingent an Flüchtlingen aufnehmen würden, dann wäre das Flüchtlingsdrama kein großes soziales Problem. Wir verstehen unsere Arbeit als politisches und evangelisches Zeugnis. Wir sind keine NGO, wir sind eine christliche Gemeinschaft, unsere Arbeit ist humanitäre Diakonie.

(Quelle: https://www.chiesaluterana.it/de/media/la-nostra-rivista/)