Pastor Raphael Quandt |
Wer in Chile lebt, der wird mit verschiedenen „Welten“ konfrontiert, die oft genug nichts miteinander zu tun haben. Sie sind einander fremd und oft beherrschen Vor-urteile das Miteinander. Pastor Raphael Quandt für drei Jahre vom Bayrischen Missionwerk „MissionEineWelt“ in die Iglesia Ev. Luterana de Chile entsandt, erlebt das z.Zt. am eigenen Leib. Er leistet seinen Dienst einerseits in einer „armen“ Gemeinde im Süden Santiago de Chiles, andererseits betreut er z.Zt. zusätzlich die zweisprachige Versöhnungsgemeinde im Norden Santiagos, eine Mittelstandsgemeinde. In seinem letzten Rundbrief für „MissionEineWelt“ schildert er seine Erfahrungen und beschreibt auch die damit verbundenen Probleme auf dem weg zu einer Wiedervereinigung beider lutherischer Kirchen.
Er schreibt: „In den armen Familien, und dazu rechne ich jetzt jene Mindestlohnempfänger, die wirtschaftlich gerade so über die Runden kommen und sich im Familienverband gegenseitig als Mini-Solidargemeinschaft stützen müssen, liegen die Ängste anders. Der Reiche symbolisiert für sie den „patrón“ (der Gutsherr) – heute würden wir schlicht sagen „den Chef“. Von seinem Willen hängt das eigene Gedeih und Verderben ab. Über Jahrhunderte hat das Bild der quasi leibeigenen Arbeiter unter einem allmächtigen Patrón die chilenische Arbeitswelt geprägt und sitzt bis heute fest in den Köpfen. So ergibt sich – zwangsläufig – eine „Kultur des sich Duckens“, des bloß nicht Auffallens, des sich Einfügens in Arbeitsprozesse und des Hinnehmens von Benachteiligung und Verletzung eigener Rechte. Schließlich muss der Arbeitsplatz gewahrt bleiben, das Einkommen muss fließen, denn ohne Rücklagen wird schon nach wenigen Tagen die Luft dünn. Diese Angst ist eine Angst vor Willkür, eingeübt über Generationen, in denen genau diese Willkür das Leben vieler armer Chileninnen und Chilenen immer wieder geprägt hat. Besonders augenfällig ist die systematische Vertreibung und Umsiedlung vieler Familien, die heute in La Bandera leben, vorher aber im (reichen) Norden Santiagos Land besetzt hatten. Das Fernsehen hier tut übrigens das seine dazu, diese gegenseitige Angst zu fördern: Aus den Armenvierteln werden die Raubüberfälle und die Kleinkriminalität gezeigt (immer mit spektakulären Bildern von Einschusslöchern, Zeugeninterviews, verunfallten Autos und am Ende der Polizei beim Abführen der Verdächtigen). Von der anderen Seite gibt es diese Bilder nicht (obwohl es da auch einiges zu zeigen gäbe, zum Beispiel über Drogenverkauf an Privatschulen). Hier sind es eher die Fälle von Wirtschaftskriminalität, Klüngel, Vetternwirtschaft, Ausbeutung, etc., welche die Vorurteile (und somit Ängste) der anderen bestätigen. Man hat also Angst voreinander, verbunden mit allen Gefühlen, die sich daran anlagern. Manchmal kommt es dabei zu Überschneidungen, die zeigen, wie sich solch ein Angstsystem nach innen hin stabilisiert: Auf die Frage, was sie als Bürgermeisterin von Santiago als erstes tun würde, antwortet eine Konfirmandin aus im Vergleich wohlhabenden Verhältnissen „Ich würde mehr Polizisten einsetzen“. Auf die Frage, welches der Traumberuf einer Konfirmandin aus ärmeren Verhältnissen ist, antwortet sie voll Begeisterung „Polizistin“. Der Ordnungsmacht wird also von beiden Seiten grundsätzlich positiv Vertrauen entgegen gebracht, was auch eine Umfrage bestätigt, nach welcher Polizei und Militär in Chile das höchste Vertrauen der Gesellschaft genießen, noch vor politischen Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, etc. Dieses Vertrauen wird auch – was mich überrascht – durch das harte und aggressive Durchgreifen von Spezialeinsatzkräften bei z.B. Studentenprotesten kaum gesamtgesellschaftlich in Frage gestellt.
In diesem Umfeld bemühen sich beide lutherischen Kirchen ILCH und IELCH um eine Wiedervereinigung im nächsten Jahr 2014, nachdem man 1976 im Streit über gesellschaftliche und politische- Themen auseinandergegangen war. Diesen Prozess hier, aus so unterschiedlichen Blickwinkeln miterleben zu dürfen, ist für mich ein großes Privileg. Besonders begeistert mich dabei der von so vielen kirchenleitenden Seiten zum Ausdruck gebrachte Wille, auf den anderen zu zugehen. An Gesten mangelt es nicht, und Gesten sind (gerade in Chile) wichtig für so einen Prozess. Dass Bischof Siegfried Sander (ILCH) auf der Synode „unserer“ IELCH die Eröffnungspredigt hält, ist ein Zeichen lebendiger Begegnung. Gleiches gilt für gemeinsame Pfarrkonferenzen und Gemeindebesuche. Doch auch in diesem Einigungsprozess tauchen die gegenseitigen Ängste auf: Wird mich der andere Vereinnahmen? Bevormunden? Wird er mich finanziell belasten? Wird er mich in eine mir politisch fremde Ecke stellen? Wird er meine Art akzeptieren, Gottesdienst zu feiern? Und: Welche Art von „Einheit“ streben wir eigentlich an? Klar ist mir, dass ein geeintes chilenisches Luthertum kein vereinheitlichtes chilenisches Luthertum sein kann. Vielmehr geht es darum, Wege zu finden, seine ihm eigene Vielfalt zu erhalten und zu einer kirchenbauenden Kraft werden zu lassen. Statt der viel diskutierten „lutherischen Identität“ von der Vielfalt der Identitäten zu sprechen, die der Wille zum gemeinsamen Kirche-Sein eint. Auch wenn dieser Aspekt der Vielgestaltigkeit unter dem Leitwort „Einheit“ hier gerade ein wenig unterzugehen droht, scheinen doch die Weichen genau in diese Richtung gestellt zu werden: Eine (schlanke) Kirchenleitung mit Generalsekretär koordiniert die Arbeit zweier Synoden (ex-ILCH und ex-IELCH). Doch zur Umsetzung dieser Pläne ist noch ein Stück Weges zu gehen, und auch ein Gelingen der Einheit muss sich erst noch erweisen: Setzt man nämlich zu sehr auf gegenseitige Unabhängigkeit der beiden Synoden, so verkommt die Einheit zu einer leeren Formel auf dem Papier. Das Gegenteil ist der Fall, wenn man beide zu schnell zu eng zusammenbindet. Ein Gemeindemitglied aus San Bernardo sagte mir genau dazu neulich „Wovor ich Angst habe, ist eine stumme Kirche, in der keiner mehr sich etwas zu sagen traut, weil es ja dem anderen möglicherweise nicht gefallen könnte“.“
Man merkt bei diesen Schilderungen: „falta mucho“… – es ist noch ein guter Weg zurückzulegen. Aber gerade Kirche sollte der Ort sein, wo Unterschiede überwunden werden und man miteinander erfährt, dass EINER – Jesu Christus – uns einlädt, gemeinsam einlädt. das wäre doch gerade in einem Chile mit so vielen unterschiedlichen Welten ein wahres Zeichen der Versöhnung!
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