Jakub Trojan

Jakub Trojan ist Theologe, Pfarrer der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB) und ehemaliger
Dekan der Theologischen Fakultät.
Am 25. Januar 1969 bestattete er Jan Palach, den
Studenten der Karlsuniversität, der sich selbst angezündet hatte,
aus Protest gegen die Gleichgültigkeit, die die tschechische
Gesellschaft nach der Okkupation der sowjetischen Armee im
August 1969 gefangen hielt. Seitdem sind 50 Jahre
vergangen.
Um an Jan Palach zu erinnern, führte  die Kirchenzeitung der EKBB ein Interview mit Trojan.  Hier ein Auszug aus dem interessanten Interview: 

In der Zeit des Prager Frühlings waren Sie Pfarrer der EKBB und in diesem Amt haben Sie im Januar
1969 Jan Palach bestattet. Er gehörte zu Ihrem Gemeindegebiet. Kannten Sie ihn persönlich?
 

Ich kannte ihn kaum. Als ich in Libiš (30 km nördlichen von Prag) Pfarrer wurde, studierte er bereits in
Prag. Seine Mutter wohnte in Všetaty, einem Ort der zur Gemeinde Libiš gehörte. Sie kam häufig mit
dem Zug in unsere Gottesdienste. Aber am Sonntag vor seiner Tat kam auch Jan in den Gottesdienst.
Ich fand ihn interessant, er hatte ein konzentriertes Gesicht und einen herrlichen Blick. Nach dem
Gottesdienst unterhielten wir uns. Man merkte, dass er ein geistreicher Mensch war.

Worüber sprachen sie denn? 

Es störte ihn, dass sich die Menschen anpassen und resignieren. Er war der Meinung, dass es nötig
ist, sie aufzurütteln. Er wäre glücklich, wenn sich die Kirche mehr am Kampf mitten im
Besatzungssystem beteiligen würde. Es schien ihm, dass die Kirche nicht darauf reagierte, wie die
Menschen sich anpassten und die Hoffnung auf Wandel zum Besseren verlören. Ich gab ihm da Recht. 

Ließ sich da etwas machen – aus Ihrer Situation eines seelsorglichen Predigers, der selbst mit dem
System seine Schwierigkeiten hatte? 

Die Kommunisten hatten die Meinung, dass die Kirche und die Religion nicht mehr lange überleben
würden und aussterben. Sie lehnten es ab, dass die Kirche auf die Geschehen in der Gesellschaft
reagierte. Ich war damit nicht einverstanden. Ich war überzeugt, dass das Evangelium eine Botschaft
ist, die nicht nur das Individuum und seine Lebensrichtung betrifft, sondern die ganze Gesellschaft.
Im Hinblick auf Jan Palach: Er beging seine Tat kurz nach unserem Gespräch, für eine tieferes
Gespräch war keine Zeit. Ich habe ihn nicht mehr getroffen. 

Im Jahr 1977 waren Sie unter den Ersten, die die Charta 77 unterschrieben. Hatte das etwas mit
dem Tod von Jan Palach zu tun? 

Ja, unter anderem. Aber ich habe mehrere solcher Texte unterschrieben, wenn mir der Inhalt
entsprechend anregend erschien. Es gab etwa zehn solcher Veröffentlichungen. Niemand ahnte, dass
das Papier Charta 77 solch eine Wirkung haben sollte. 

Jan Palach

Die Mutter von Palach kam nach seinem Tod zu Ihnen, damit Sie ihren Sohn bestatten. Haben Sie
erwartet, dass sie Sie bittet?
 

Nachdem Jan Palach sich durch die Selbstverbrennung das Leben genommen hatte, sprach ich lange
mit Palachs Mutter. Direkt nach Palachs Tod habe ich nicht gewusst, dass es sich um ein Mitglied aus
meiner Gemeinde handelt. In der Zeitung schrieben sie nur J.P. Ich wusste nicht, dass das Kürzel für
Jan Palach stand. Wir haben es erst durch unsere Tochter erfahren, die mit Jans Cousin zur Schule
ging. Das hat uns alle erschüttert. Aber da wusste ich noch nicht, dass ich ihn bestatten würde. 

In der kirchlichen Agende zur Bestattung unterscheidet man zwischen einem selbstherbeigeführten
und einem natürlichen Tod. Die Frage, ob der Tod Palachs ein Suizid war, mussten Sie sich vor seiner
Bestattung stellen. War die Antwort auf diese Frage schwierig?


Ja, das war ein Problem, das ich erst theologisch lösen musste. Die Mehrheit von Suiziden ist ein Akt
der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. War der Tod von Jan ein Selbstmord oder ein Opfer? Ich
sagte mir: Das war keine Verzweiflungstat. Er wollte mit seiner Tat die ganze Gesellschaft aufrütteln.
Er wollte Menschen mobilisieren, dass sie darüber nachdenken, wie sie mit der aktuellen
Besatzungssituation umgehen. Er dachte nicht an sich, sondern an den Nächsten. Und er wählte ein
Mittel, das unvorstellbar wirkungsvoll ist. 

Sie sagen „wirkungsvoll“. Wie haben die Menschen denn auf den Tod von Jan Palach reagiert? 

Es war unglaublich, was für eine Welle sein Tod nicht nur in Prag, sondern im ganzen Land ausgelöst
hat. Sogar die Köpfe des Regimes waren aus der Bahn geworfen, das Regime war einige Wochen wie
betäubt. Es war auch deswegen ein Schock, weil es kein feindlicher Akt war. Es war eine
Selbstvernichtung, die eine Botschaft hatte. Palach hat sich, glaube ich, vorgestellt, dass sich die
Leute sagen: „Wenn so ein junger Mensch so weit geht, sein Leben zu opfern, was muss dann ich erst
machen?“ Nicht das nachzuahmen, aber kleinere Opfer zu bringen. Die Situation, in der die
Gesellschaft steckte, zu ändern, in kleinen Dosen. Bei seiner Bestattung zog eine unglaublich große
Menge Menschen durch die Prager Straßen. Es war still, die Menschen weinten. Sie waren betroffen,
und zugleich war es eine würdevolle Stimmung. 

Wie ging es dann weiter, wenn Sie sagen, das Regime war „aus der Bahn geworfen“? 

Einige Tage waren sie vollkommen ratlos. Die „Normalisierung“ hatte begonnen, viele Politiker waren
unsicher. Die würdevolle Bestattung mit dem Beerdigungszug durch Prag haben sie noch erlaubt. Als
sich die Regierung wieder gefasst hatte und die gesamte Begebenheit etwas verhallt war, versuchte
die Regierung eine neue Deutung für die Tat zu finden. Sie begannen zu sagen, dass Palachs Tod ein
tragischer Unfall war. 

Vilem Novy, kam damals mit der Erklärung, dass der Tod von Jan Palach ein Unfall bei dem Versuch
mit der sogenannten „kalten Flamme“, mit der auch Feuerschlucker ihre Tricks machen, war. Dass
er sich gar nicht verbrennen wollte, es ihm aber nicht gelungen war, die richtige Mischung der
„kalten Flamme“ zu mischen. Glaubte das damals jemand? 

Niemand. 

Welche Reaktion rief Palachs Tod in der Kirche hervor? 

In der Kirche begann eine Diskussion darüber, ob es ein Opfer war. Auch die Katholiken stimmten mit
dieser Sichtweise überein. Der katholische Bischof bot der Familie sogar an, dass er die Bestattung
machen würde. Aber die Palachs waren evangelisch. 

Sehen Sie eine Gemeinsamkeit zwischen Palachs Selbstverbrennung und Jan Hus Tod 1415? 

Palach liebte die tschechische Geschichte. Der Unterschied liegt aber darin, dass Hus verbrannt
wurde, es handelte sich bei Jan Hus um eine Strafe. Während Palach sich eine Frage stellen musste –
bzw. ich hoffe, dass er sie sich gestellt hat – ob diese Selbstzerstörung einen Sinn hat. 

Jan Hus musste nicht sterben, es war sein Opfer für Gottes Wahrheit. Bei Palach scheint es, als ob
Gott in Palachs Sterben keine Rolle spielt. Dass es ein Opfer für die Gesellschaft war. Was denken
Sie, wie Gott auf Palachs Tat blickt? 

Palachs Motive haben wir schon oben besprochen, aber niemand weiß es mit Sicherheit. Ich möchte
keine definitive Antwort geben. Es gehört zum Glauben, dass er nicht den Anspruch hat, definitive
Antworten zu geben. Und Palach hat das Ganze bis zu dem Punkt verschoben, wo wir mit unseren
theologischen und biblischen Antworten an unsere Grenzen kommen. Aber das ist gut. Denn unser
ganzes Sein stellt uns immer wieder von Neuem vor Fragen, auf die wir keine Antwort haben. Wir
sind dazu berufen, dass wir die Fragen stellen, damit wir uns im Angesicht der Probleme vorwärts
bewegen. 

Das führt uns zurück zu Palachs Mutter. Sie musste damit zurechtkommen, dass sie nicht nur ihren
Sohn verloren hatte, sondern dass auch weitere Mütter ihre Kinder verloren. Palachs Tod zog eine
Welle von Selbstverbrennungen nach sich. Von Januar bis April 1969 haben sich sieben weitere
Menschen selbst verbrannt und 19 zogen sich schwere Brandverletzungen zu. Wie hat sie das
ertragen? 

Über die weiteren Verbrennungsopfer berichtete die Presse schon gar nicht mehr und viele
Menschen wusste davon gar nichts. Nur Jan Zajic ist noch bekannt. Der Tod von ihrem Sohn hat Frau
Palach in eine tiefe Krise gestürzt. Aber jeden Tag hat sie viele Briefe bekommen, in denen Menschen
ihre Solidarität und ihren Dank aussprachen. Sie begann zu begreifen, dass die Familie den Tod von
Jan überstehen wird. Es war für sie wie eine Erscheinung – dass die gesamte Gesellschaft zu so einer
Anteilnahme erwachte. Sie erhielt auch von der jungen Frau Unterstützung, die mit Jan zusammen
war. 

Die geheime Staatspolizei setzte dann Frau Palach unter Druck. Hatten Sie ebenfalls nach der Bestattung Probleme dieser
Art

Nicht sofort. Aber im September, neun Monate nach der Beerdigung kamen sie damit, dass Palach
diese Tat nur durchführen hatte können, weil er von jemandem vorbereitet worden war. Und dass das
der Pfarrer gewesen sein musste. Sie hätten Zeugen, die sagen, dass ich es gewesen sei. Sie wollten
das deswegen so drehen, damit sie hätten sagen können: „Seht, die Kirche hat eine schlimme
Wirkung auf unsere Jugend!“ Ich bat darum, dass sie mir die Zeugen vorführten. Aber sie meinten,
das könnten sie nicht. Sie wollten meinen Kalender sehen, um zu sehen, ob es nicht Notizen zu einem
Treffen mit Palach gäbe. Ich hatte keine, weil ich außer dem Gespräch im Anschluss an den
Gottesdienst Palach nicht getroffen hatte. Dann wollten sie mein Tagebuch sehen, aber ich gab es
ihnen nicht. Direkt im Anschluss bin ich zum Synodalrat gegangen und habe mein Tagebuch in meiner
Aktentasche fest unter meinen Arm geklemmt. Ich hatte Angst, dass jemand sie mir wegnahm. Drei
Jahre später bekam ich dann die staatliche Erlaubnis entzogen, als Pfarrer zu arbeiten. 

Jan Palach wurde, nachdem Sie ihn auf dem Olšany Friedhof in Prag bestattet haben, kurze Zeit
später nochmal umgelegt, auf den Heimatfriedhof in Všetaty. 

Ja, die Familie kam zu mir und fragte, was sie machen sollten. Man hatten ihnen gesagt, dass sie ihn
entweder auf dem Friedhof in Všetaty begraben werden oder dass sie ihn in einem
Gemeinschaftsgrab verscharren ohne Angabe des Ortes. Also lag er dann bis 1989 in Všetaty. 

Damit hatten die Kommunisten nicht viel gewonnen, die Menschen pilgerten jetzt zu zwei
Gräbern… 

Auf dem Prager Olšany- Friedhof haben sie das Grab von Palach umbenannt, der Name einer fremden
Frau stand dort. Aber die Leute stellten trotzdem dort Kerzen ab. In seinem Heimatort Všetaty hatte
es die geheime Staatssicherheit einfacher. Dort fingen sie die Menge an jungen Leuten, die am
Jahrestag zum Grab wollten, schon am Bahnhof ab. 

Auch wenn das Opfer Jan Palachs die Nation erschütterte, das System änderte es nicht. Das, was
Palach bezwecken wollte, geschah erst 20 Jahre später – 1989. Die Samtene Revolution begann im
Januar mit der Palach-Woche. Haben Sie sich dabei an Jan erinnert? Was dachten Sie? 

Ich dachte, er ist tot und er spricht doch noch immer zu uns. Das ist wie in der Bibel. Die Bindung zu
seiner Tat war unverkennbar. In den Menschen war sie geblieben, die Menschen hatten sie die ganze
Zeit in ihren Herzen getragen. Für mich ergab sich daraus, dass wir unser Leben jeden Tag
verantwortungsvoll führen sollen. Und so wächst der Mensch. Es kultiviert ihn, es macht ihn
einfühlungsvoll in die Probleme anderer in der Gesellschaft. Verantwortung ist für mich der Eckstein
des Glaubens. Im Wort „Verantwortung“ kann man das Wort „Beantwortung“ hören – Antwort auf
das, was uns in diesem Spruch überliefert ist: „Du sollst so handeln.“. So spricht uns Gott an, durch seinen heiligen Geist. 

Kann man in der Bibel ähnliche Opfer finden, wie das von Palach? 

Als ich die Beerdigungspredigt für Jan Palach vorbereitet habe, habe ich so ein Opfer bei Samson
gefunden. Es war auch kein Suizid – er gab sich hin, damit seine Brüder leben könnten. Suizid ist ein
Akt aus Hoffnungslosigkeit, Palach hatte aber Hoffnung, dass Menschen seiner Tat eine Bedeutung
zumessen. Jan Palach habe ich nicht als jemand verstanden, der sein Leben zerstört, sondern der ein
Zeuge ist. 

Das Interview wurde aus der Zeitschrift „Brana 1/19“ übernommen, die von der EKBB herausgegeben
wird. Redaktionell gekürzt