Kommt zu Christus als
zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei Gott
auserwählt und kostbar. Auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum
geistlichen Hause und zur heiligen Priesterschaft. 1 Petrus 2,4-5a

Der frühe Morgen des 1. Mai 2018. Durch einen schrecklichen
Brand stürzt ein 24-stöckiges Gebäude ein. Die Martin-Luther-Kirche der
Innenstadtgemeinde wird ebenfalls zerstört, ein Gebäude, das zum Kulturerbe der
Stadt São Paulo gehört und seit 108 Jahren die Gegenwart Gottes in der Stadt
bezeugt. Sie hat Bedeutung in diesem Umfeld. Als der Morgen anbricht, bekommt
man einen Überblick über die Dimension des Unglücks. Auf der einen Seite die
zerstörte Kirche; nur der Kirchturm, die Orgel auf der Empore und der Altar
stehen noch. Auf der anderen Seite ein rauchender Berg aus Steinen und
verkrümmtem Stahl – und die große bange Frage: Wie viele Menschen schafften es,
vor dem Einsturz aus dem Gebäude zu fliehen? Wie viele Leichen befinden sich in
den Trümmern? Das Hochhaus – ein früheres Bürogebäude – wurde besetzt von
obdachlosen Familien, die dort unter zutiefst prekären Verhältnissen lebten.
Seit Langem wurde auf den unhaltbaren Zustand und die Gefahren hingewiesen.
Doch die Verantwortlichen in Verwaltung und Politik taten nichts. So geschah
die Tragödie.

Menschen weinen, stieren ins Leere und sorgen sich um das
Morgen. Immerhin: Die Obdachlosen bekommen kurzfristige Hilfe, Essen und
Kleidung von Menschen, die spontan helfen. Aber sie fragen sich auch: Wo werden
wir jetzt leben? Müssen wir in ein anderes leer stehendes Gebäude ziehen, das
womöglich auch einstürzen wird? Fragen im Blick auf die Vermissten tauchen auf
– es sind mehr als 40. Sind sie in den Trümmern?

Die Gemeindeleitung, der Pastor und die Mitglieder der
Innenstadtgemeinde sorgen sich um das Morgen. Tränen rollen und erstickte
Stimmen fragen, wie die Kirche – der Raum für ihr Leben als Gemeinde – wieder
aufgebaut werden soll. Werden sie die Kraft haben, vereint zu bleiben und mit
ihrem Glaubenszeugnis weiter zu machen? Haben sie weiter Kraft, sich diakonisch
den Menschen zuzuwenden, die auf der Straße oder ausgerechnet in dem
eingestürzten Hochhaus lebten?

Der Bibeltext aus dem 1. Petrusbrief lädt uns ein, auf den
zu blicken, den Gott als Eckstein auserwählt hat. In ihm sind wir „lebendige
Steine“ und bilden gemeinsam die Kirche. Darin besteht das Wesen unserer
Gemeinschaft. Steine sind herabgestürzt. Menschenleben sind gegangen. Menschen
weinen und fragen bange nach dem nächsten Tag. Aber die lebendigen Steine,
erbaut auf dem Fundament, auf Christus, richten sich wieder auf, auch wenn das
physische Kirchgebäude eingestürzt ist. Die lebendigen Steine bleiben in Treue
dabei, „die Wohltaten Gottes zu verkündigen“ (1. Petrus 2,9) und sich denen zuzuwenden,
die „hungrig, durstig, fremd, nackt, krank oder im Gefängnis sind“ (Matthäus
25). Die geistliche Kirche bleibt bestehen, erbaut auf dem Fundament, Christus;
sie bezeugt Gottes Liebe zu den Menschen.

Geraldo Graf, Synodalpfarrer der Südostsynode mit Sitz
in São Paulo

Foto: Jonathan Klebber