Prof. Paolo Naso

„Wenige nur erinnern sich noch an Jerry Essara Masslo, einen po­litischen Flüchtling aus Südafrika, der 1989 nach Italien kam. Am 25. August, an dem er in Villa Literno (CE) als Landarbeiter arbeitete, wurde er von einer Bande ausgeraubt und ermordet. Bei sei­ner Beerdigung, die nach katholischem Ritus vollzogen wurde, fiel nie­mandem auf, dass Masslo ja ein evangelischer Prädikant gewesen war, und dass daher der Beerdigungsritus im Widerspruch zu seiner Glau­benszugehörigkeit stand. Seitdem sind Jahrzehnte vergangen und Menschen wie Jerry Masslo sind keine Selten- und Beson­derheiten mehr. Wie wir in einer soziologischen Stu­die („Sorelle e fratelli di Jerry Masslo. L´immigrazione evangelica in Italia“, Claudiana 2o14) dargestellt haben, hat die wachsende Zahl der in Italien lebenden Aus­länder das Profil diverser evangelischer Kirchen in Ita­lien verändert. Insgesamt gibt es heute etwa drei­hunderttausend evangelische Einwanderer, die vor al­lem aus Osteuropa und Westafrika stammen. Zum Großteil kommen sie aus Pfingstkirchen oder ganz all­gemein aus „evangelischen“ Kirchen. In den Adventi­sten-, Baptisten-, Methodisten- und Presbyterianischen Kirchen der Herkunftsländer haben sich große Grup­pen gebildet. Leider besitzen wir keine genauen Zah­len in Bezug auf lutherische Migranten/innen. Zahlen, die sicher sehr interessant wären! Wenn wir aber das Berechnungssystem anwenden, das für das Statistische Jahrbuch über Migration von IDOS und Confronti verwendet wird, stellen wir fest, dass sich unter den in Italien lebenden, evangelischen Migranten und Migrantinnen auch einige Tausend Lutheraner/innen vor allem aus Nigeria, Äthiopien, Kamerun und der Demokratischen Re­publik Kongo befinden. Nach ihrer Ankunft in Italien stellen sich die­se Schwestern und Brüder die Frage nach ihrem geistigen und spiri­tuellen „Zuhause“. Dabei haben sie drei Strategien entwickelt. Die er­ste ist die der „ethnischen“ Kirchen, d.h. der Einwanderergemein­schaften, die sich neu organisieren und dabei ihre Muttersprache und ihre liturgischen Traditionen in den Mittelpunkt stellen. Die Stärke die­ses Modells ist der Zusammenhalt der Gemeinschaft; der Schwachpunkt besteht allerdings darin, dass sie sich von ihrem Umfeld isolieren und damit ihre Integration bremsen und langfristig eine Spaltung prov­ozieren: zwischen den Vätern, die ihre Traditionen bewahren wollen, und den Kindern, die ihre Eingliederung in die italienische Gesellschaft be­schleunigen wollen. Die zweite Strategie ist die der Inanspruchnahme der Gastfreundschaft italienischer Schwesterkirchen. Das ist der Fall bei „Immigrantenkirchen“, die die Räumlichkeiten der italienischen Schwe­stern und Brüder nutzen und sich zwar gelegentlich mit ihren Gast­gebern treffen, aber deutlich voneinander getrennte Strukturen bei­behalten. Es handelt sich dabei um eine Kompromisslösung, die häu­fig zu Konflikten führt, weil ohne die grundlegende Überzeugung, ge­meinsam den Weg des interkulturellen Austauschs beschreiten zu wollen Sensibilitäten und Traditionen zu unterschiedlich und unvereinbar erscheinen. Die dritte Strategie ist die der interkulturellen Integration, d.h. der Versuch, gemischte Gemeinschaften von Italienern/innen und Migranten/innen zu bilden, die gemeinsam versuchen, das Leben der Gemeinschaft zu organisieren und liturgische Traditionen, spiri­tuelle Gaben und finanzielle Mittel zu teilen. Und das ist das, was ei­nige evangelische Gemeinschaften und der Bund Evangelischer Kirchen in Italien (FCEI) „Gemeinsam Kirche sein” nennen. Es ist ein dialektisches und flexibles Modell, das von den Methodisten- und Waldenserkirchen und zum Teil auch von der Baptisten- und Adventistenkirche umgesetzt wird. Schwerpunkt des Modells „Gemeinsam Kirche sein“, das die FCEI allen ihren Mitgliedskirchen empfiehlt, ist die Idee, dass die evangeli­schen Gemeinden ein wertvolles Laboratorium der Integration sein kön­nen. Es handelt sich hierbei sicher nicht um einen einfachen, linearen Prozess. Unbedingt erforderlich ist eine intensive Vermittlungsarbeit auf kultureller, theologischer und ekklesiologischer Ebene, die sowohl Migranten/innen als auch Italiener/innen miteinbeziehen muss. Ein In­strument zur Unterstützung ist in diesem Sinne das Laboratorio in­terculturale di Formazione e Accoglienza (LI N FA), zu dem sich ab näch­sten Herbst angemeldet werden kann (Info: eci@fcei.it). Auch in den evan­gelischen Kirchen darf die Integration keine Assimilation sein, sondern sollte ein bilateraler, von Zusammentreffen, gegenseitigem Kennenlernen und gemeinsamer Arbeit geprägter Integrationsprozess sein.“

Paolo Naso ist Dozent für Politikwissenschaften an der Universität La Sapienza in Rom und koordiniert die Studienkommission Dialog und Integration (COSDI) vom Bund der evangelischen Kirchen in Italien

aus der Zeitschrift der Lutherischen Kirche Italiens “Miteinander/Insieme” (2016, N° 4)