Die „Direitoria“ der „Paróquia“ Ernestina, das ist so etwas wie der Rat der Gesamtgemeinde Ernestina, trifft sich am Donnerstagabend und hat uns danach zu einer „Janta“, einem Imbiss, eingeladen. Für Martin ist das so etwas wie ein Nachhause Kommen, war er doch hier von 1969 bis 1974 Pfarrer und erinnert sich gerne an diese Zeit. Immer noch treffen wir Menschen, die gleich sagen: „Aber Pfarrer, ihr habt mich doch damals konfirmiert!“ Und dann geht es los mit den Erinnerungen. „Was macht der, lebt die noch?“ Damals hieß Ernestina noch „Villa Ernestina“, Dorf Ernestina. Heute ist es ein Munizipium und hat das „Villa“ stolz hinter sich gelassen.
Die Fragen, die sie dieses Mal auf dem Herzen haben, erstaunen uns nicht wenig. „Pfarrer, was wisst ihr über die Anfänge der kleinen Außengemeinden, zum Beispiel von Poligono do Erval und Posse Gonçalves? Die Geschichte von Ernestina haben wir ja ganz gut dokumentiert, besonders auch in der Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum 2009. Aber für die Außengemeinden fehlen weitgehend die Unterlagen“. Wir hatten uns schon die weit verstreuten kleinen Kirchen der Gesamtgemeinde Ernestina angesehen, immerhin ein Gebiet, das einem größeren ländlichen Kirchenkreis in einer deutschen Landeskirche gleichkommt. Im Ganzen sind es das neun Gemeinden!
Seit jenen lange zurück liegenden 70er Jahren hat sich sehr viel geändert. Damals waren die meisten Straßen nicht asphaltiert und die Wege zu den Gemeinden, zu den Gottesdiensten, zum Konfirmandenunterricht und den Beerdigungen, die innerhalb von 24 Stunden stattfinden mussten, besonders bei Regen lang und beschwerlich. Da ist manches heute leichter, aber die Vielzahl der weit auseinander liegenden Gemeinden ist geblieben.
Ja, was soll Martin auf die Frage antworten? Er zuckt die Achseln. Die Leute in den Gemeinden hatten damals andere Sorgen, als alles aufzuschreiben. Das ist schade, aber der Kampf ums tägliche Brot und das Leben „auf der Kolonie“, das heißt auf dem Lande, war hart. Der Vorsitzende des Gemeinderates, Casimiro Selig, berichtet, dass es zwar einiges Schriftliche gibt, aber in alter deutscher Schrift. Und damit kann sowieso niemand etwas anfangen. Aber sie würden doch so gerne mehr über die Vergangenheit wissen und der nachfolgenden Generation hinterlassen. Alles, was wir anbieten können, ist, beim Entziffern von Testen behilflich zu sein. Es ist schon interessant, dass man jetzt, wo das alltägliche Leben wirtschaftlich stabil ist, beginnt, nach der Vergangenheit, den Wurzeln und Anfängen zu fragen, ähnlich wie die Israeliten, die ihre Geschichte in der Zeit Davids aufschrieben, als sie sesshaft und gesichert lebten.
Und dann kommt Pastor Jonas Ronei Gunsch, der seit drei Jahren in Ernestina ist, noch mit einer überraschenden Frage. „Mein Urgroßvater Martin Gunsch und seine Frau Katharina kamen 1911 aus Russland, aus Wolhynien, nach Brasilien. Darüber kann ich nichts herausfinden, aber ich würde gerne mehr darüber wissen“. Wir lachen. Ja, Wolhynien in der heutigen Ukraine, klar, das kennen wir doch, da wurde doch auch Martins Vater geboren. Da sind wir schon gewesen. Wir berichten, wo das liegt, und das es im Internet ein Wolhynienforum gibt, wo Fragen gestellt werden können. Wir versprechen, da zu recherchieren. Dann bringt Pastor Jonas, wie es hier allgemein heißt, ein paar Schätze: zwei alte Fünf-Rubel-Scheine mit Doppeladler aus dem Jahr 1909 und ein kleines Notizbuch, in das Urgroßvater Martin Gunsch in den 20er Jahren alle seine Ausgaben fein säuberlich notiert hat, aber schon auf Portugiesisch! Wieder erleben wir, wie viele Menschen aus Russland hier in Südamerika eine Heimat gesucht haben und im Fall von Martin Gunsch schon vor dem 1. Weltkrieg und vor der Russischen Revolution. Damals verließen sie ihre Heimat ohne die Erwartung, sie je wieder zu sehen. Heute sind wir im Netz verbunden, aber auch durch die vielen Begegnungen. Und das wird mir an diesem Abend deutlich – durch die Spuren, die wir hinterlassen. – Vera Gast-Kellert, Vorsitzende der Frauenarbeit im GAW
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