In diesem Jahr feiert die Evangelische Kirche Lutherischen Bekenntnisses (IECLB) ihr 200-jähriges Bestehen. Vor genau 100 Jahren schrieb P. Dedekind im GAW-Jahrbuch „Die evangelische Diaspora“ über das damals begangene Jubiläum:

„In Rio Grande do Sul, dem südlichsten Staate Brasiliens, feiern die Deutschen in diesem Jahr die Jahrhundertfeier deutscher Kolonisation. Am 25. Juli 1824 betraten die ersten deutschen Einwanderer in der Nähe des heutigen Städtchens Sao leopoldo den Boden Brasiliens. Sie waren auf Veranlassung des Kaisers Dom Pedro I. aus Deutschland, zumeist vom Hunsrück und von der Eifel, gekommen und über den Fluß Rio dos Sinos hinauf befördert… In Hamburgo Velho wurden die ersten deutschen Kolonisten angesiedelt.; von da aus drangen die wackeren Kulturpioniere strahlenförmig immer weiter in den Urwald hinein…

Um die kirchliche Versorgung dieser deutschen Protestanten in Rio Grande do Sul stand es schlimm. Wohl befand sich unter den ersten Einwanderern der Pfarrer Ehlers aus Hamburg… Bald folgten zwei weitere Männer. Ob diese drei Männer theologisch vorgebildet und zum kirchlichen Dienst ordiniert waren, muß allerdings bezweifelt werden… Im Allgemeinen waren die deutschen Protestanten im Urwald sich selbst überlassen. Sie suchten sich kirchlich zu helfen, so gut es ging. Sonntags verabredete man sich an der berabredeten Stelle, hörte eine Predigt aus dem bekannten Starkebuch, die ein Kolonist vorlas; man sang Lieder der Heimat und suchte sich zu stärken und zu trösten in den schweren Zeiten. Die Heimatkirche in Deutschland aber dachte lange Zeit nicht an die nach Brasilien gezogenen Kinder…

Die Kinder, die keine Schule hatten, verwilderten. Das kirchliche Leben ward auf eine schwere Probe gestellt… Ist es unter den Umständen zu verwundern, daß in den deutschen evangelischen Gemeinden, die lange Zeit keine ordentlichen Geistlichen erhielten, trostlose Zustände einrissen? Man nahm als Pfarrer, wen man bekommen konnte. Als endlich 1864 auf Bericht des preußischen Gesandten vom Evang. Oberkirchenrat in Berlin Pfarrer Dr. Borchard nach Brasilien geschickt wurde, da schildert er die Pfarrer der Gemeinden folgendermaßen: „Der eine ist ein fortgejagter Schulmeister aus Deutschland, der als Trinker und Spieler berüchtigt ist; der andere ein durchgegangener Unteroffizier aus Preußen, dem im Trinken keiner gleichkommt; der dritte ein Bierwirt aus Porto Alegre, der dort mehrfach bankerott machte und, da er seinen Lebensunterhalt nicht anders finden konnte, Pastor wurde; der vierte ein übel berüchtigtes Subjekt, das weder lesen noch schreiben konnte; ein anderer, der nicht gerade zu den schlechtesten gehörte, war Bedienter bei einem Grafen; ein anderer Gehilfe bei einem Feldmesser und wieder ein anderer seiner Profession nach Schneider.“ Derartige „Pastoren“, früher Schneider, Kellner, Offizier gab es vielleicht 40 in Rio Grande do Sul. „Den Schund aus Deutschland haben wir immer annehmen müssen,“ sagte einmal bitter ein Kolonist. Schwer haben die deutschen Protestanten daran getragen… So durfte es nicht weitergehen!

Die „Evangelische Gesellschaft für die protestantischen Deutschen in Südamerika“, die 1864 von Dr. Fabri gegründet wurde, übernahm die Aufgabe, tüchtige Geistliche nach Brasilien zu senden. Sie half den Gemeinden, geordnete kirchliche Verhältnisse zu schaffen…

Der Evangelische Oberkirchenrat und das GAW haben von Jahr zu Jahr nachgeholfen… So konnte in den vergangenen Jahrzehnten eine wohlgeordnete deutsche evangelische Kirche im Land entstehen, der heute fast 300 Gemeinden angehören…

Unter äußerlich meist ärmlichen Verhältnissen haben die Pfarrer in zumeist gewaltig ausgedehnten Pfarrgebieten eine große Arbeit, Sorge und Mühe getragen. Halten sie morgens stundenlang Schule, so müssen sie obendrei viel kostbare Zeit auf der Straße im Sattel zubringen in glühender Hitze oder in strömendem Regen, auf z.T. furchtbaren Wegen…

Möge es den hunderttausend evangelischen Deutschen in Brasilien, deren Zahl durch die jetzige große Auswanderung aus Deutschland bedeutend wachsen wird, gelingen, in treuem Festhalten an evangelischem Glauben.. auch in jenem Land Gottes Reich zu bauen zum Segen Brasiliens…“

(aus: „Die evangelische Diaspora – Zeitschrift des Gustav Adolf Vereins“, 6. Jg. 1924, S. 97-100)