Vor eineinhalb Jahren lernte Marie Kawalla während ihres GAW-Freiwilligendienstes in Brasilien Ranielia Gonçalves kennen. Ranielia ist 20 Jahre alt. Während ihrer Ausbildung im lutherischen Internat ADL hat sie wie alle Schüler:innen viel über Frauenrechte und die Frauenbewegung in Brasilien gelernt und schon oft den Frauentag im Internat mit eigenen Aktionen gestaltet: Schweigeminuten im Speisesaal oder Gottesdienste, in denen Theaterstücke zum Thema häusliche Gewalt gegen Frauen aufgeführt werden. Kurz vor dem Internationalen Frauentag unterhielten sich die beiden jungen Frauen über Zoom über die Rechte von Frauen und die Aufgabe von Männern, auch gegen Machismus zu kämpfen.
Marie: Heute ist Weltfrauentag. Was sind die ersten Worte, die dir einfallen, wenn du an diesen Tag denkst?
Ranielia: Ich denke an Stärke und Empowerment und Patriarchat.
Marie: Warum ist es wichtig, einen Tag für die Frauen zu haben? Insbesondere, wenn man auf Brasilien schaut?
Ranielia: Brasilien ist ein Land, in dem der Machismo noch sehr stark ist. Die Frauen haben in der Gesellschaft hauptsächlich die Aufgabe, in der Küche zu sein und sich um die Kinder oder jemand anderen zu kümmern. Und diese Aufgaben sind der Mindeststandard, den die Frauen erbringen müssen. Der Frauentag ist da, um die Aufmerksamkeit auf die Frauen zu lenken und sie wertzuschätzen. Dieser Tag repräsentiert den ganzen Kampf, den die Frauen durchgemacht haben, um heute eine bessere gesellschaftliche Position erreicht zu haben. Heute steht in der Verfassung, dass wir die gleichen Rechte wie jeder Mann haben. Über die Zeit der Kämpfe, haben wir sie uns erobert, nicht mehr, nicht weniger: dieselben Rechte!
Marie: Hast du selbst Diskriminierungserfahrungen gemacht, weil du eine Frau bist?
Ranielia: Ja, das war lange Alltag für mich. Ich bin zusammen mit meinem jüngeren Bruder aufgewachsen. Und ich habe erlebt, was er für Rechte hat, weil er ein Junge war. Außerdem habe ich die Sorgen mitgekriegt, die sich meine Familie um mich gemacht hat, weil ich ein Mädchen war. Als wir Jugendliche waren, hatte ich immer einen festen Zeitpunkt, wann ich nach Hause kommen musste und ich musste immer lange Kleidung tragen. Für meinen Bruder gab es diese Regeln nicht. Abends draußen zu sein, bedeutete für ihn kein Problem, für mich schon.
Marie: Um an dieser Situation etwas zu ändern, gibt es verschiedene Aktionen und Projekte in Brasilien. Das lutherische Internat, die AssociaÇão Diaconica Luterana (ADL), die du besucht hast, ist daran aktiv beteiligt. Wie hat die Zeit dort deine Sicht auf dich selbst als Frau verändert?
Ranielia: Als ich noch zu Hause gewohnt habe, musste ich immer das Geschirr spülen und das Haus putzen. Das war etwas, was ich immer gemacht habe, ohne mich zu fragen, warum. In der ADL habe ich erlebt, dass dies Aufgaben nicht nur für Frauen sind, sondern für alle, die an der Gemeinschaft beteiligt sind und für alle, die dort wohnen. Und ich habe auch gemerkt, dass ich mich selbst diskriminiere, wenn ich denke, dass ich sauber machen muss, weil ich eine Frau bin.
Marie: In den letzten Jahren gab es immer wieder Frauen in Brasilien, die nicht beim Frauentag mitmachen wollten. Kannst du uns erzählen, warum?
Ranielia: Das ist eine große Diskussion hier. Es entsteht der Eindruck, von 365 Tagen in einem Jahr gibt es einen Tag, an dem sich erinnert wird: Ah, es gibt übrigens Frauen. In dem Moment, in dem ich mich an diesem einen Tag in den Kampf einbringe, kann das bedeuten, sich die restlichen 364 Tage verstecken zu müssen. Viele Frauen im letzten Jahr haben dagegen protestiert, weil es eben nur dieser eine Tag war. Ein Tag, um in Erinnerung gerufen zu werden. Ein Tag, um wertgeschätzt zu werden. Ein Tag, um unsere Rechte anzuerkennen. Aber wir sind 365 Tage im Jahr hier. Wir sind die ganze Zeit hier und wir haben Rechte – die ganze Zeit!
Marie: Und die Männer? Was denkst du: Sollen sie sich am Kampf der Frauen beteiligen oder besteht ihre Aufgabe erst einmal darin, die Botschaften der Frauen anzuhören?
Ranielia: Ich glaube, wenn du eine Frau bist, hast du mehr zu sagen an diesem Tag. Aber man darf die Beteiligung der Männer nicht unterschätzen. Sie müssen ein Teil von dem Kampf sein, weil in einem Land, in dem der Machismo noch sehr ausgeprägt ist, die Stimme eines Mannes lauter ist und besser gehört wird. Ob einem das gefällt oder nicht … Die Männer haben schon viel gehört, jetzt müssen sie es wiedergeben, jetzt müssen sie reden, jetzt müssen sie uns unterstützen.
Marie: Stell dir eine Zeit vor, in der der Frauentag nicht mehr für den Kampf bestimmt sein muss, sondern ein Tag ist, um den Stolz aller Frauen zu feiern. Was würdest du machen an diesem Tag? Wie würdest du ihn begehen?
Ranielia: Wahrscheinlich würde ich mit dem Körper der Frau, mit meinem Körper feiern. Er ist ein Teil von uns, der immer in das Patriarchat und in diese Welt involviert war und dessen Deutung der Machismo sich lange Zeit zu eigen gemacht hat. Das dekonstruieren wir jetzt. An diesem Tag würde ich zeigen, dass ich auf meinen Körper stolz bin. Auf die Körper der Frauen und alle ihre Formen und Ausdrucksweisen. Auch um zu zeigen, dass heutzutage die Körper sozusagen standardisiert wurden. Du musst dünn sein, du darfst keine hässlichen Seiten haben, das sind Idealvorstellungen, die wir als Gesellschaft immer noch haben. Und am Tag des Stolzes der Frauen könnten wir zeigen: Wir sind keine Schablonen! Wir sind verschieden in allen Facetten und wir zeigen das mit unseren Körpern!
(zum GAW-Freiwilligendienst: https://www.gaw-wue.de/freiwilligendienst/)
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