Pfarrer Matthias Burckhard aus Tallinn gibt in seiner neuen Gemeindebriefausgabe eine Einblick in die estnische Gesellschaft:
„Die gegenwärtigen Kämpfe in der Ukraine sind von Estland aus betrachtet sehr nahe. Die Teilung der Gesellschaft in zwei Lager, ein EU-freundliches und ein russlandfreundliches geschieht auch hier, auch hier gibt es dafür ethnische und historische Voraussetzungen. Der Zusammenprall der Geschichtsdeutungen geschah in Estland deutlich sichtbar vor 7 Jahren: Bei den Krawallen um das sowjetische Ehrenmal des Bronzesoldaten und seine Verlegung auf den städtischen Friedhof. Die entscheidende Frage war eine Frage der Geschichtsdeutung: Waren die Rotarmisten Befreier oder Bedrücker? In jeder Familie gibt es dazu entsprechende Erinnerungen, die selbstverständlich von den jüngeren Generationen aufgenommen und ggf. verteidigt werden.
Hinzu kommen zwei weitere Faktoren, ein wirtschaftlicher und ein politischer. Der wirtschaftliche Faktor spielt eher den russlandfreundlichen Kräften in die Hände: Die Aussicht auf Vorzugspreise im Russlandhandel spielt eine große Rolle ( z.B. billigere Energieträger, in einem kalten Land mit hohen Strompreisen und ständigem Anpassungsdruck an europäische (Umwelt-)normen durchaus eine verlockende Aussicht. Und hat nicht Deutschland die Nordstream-Pipeline mit Russland fertiggestellt, um von Transitländern wie der Ukraine und den dortigen politischen Entwicklungen unabhängig zu sein?). Die Energiefrage ist für Estland dringender als für die an Bodenschätzen so reiche Ukraine. Es setzt schon großen Patriotismus oder großen Reichtum (oder beides) voraus, dass einem z.B. der Gaspreis egal ist.
Der politische Faktor ist ebenfalls nicht zu unterschätzen, aber er wird sehr ambivalent beurteilt. Zu Tage liegt das Interesse des Kremls über kurz oder lang den russischen Machtbereich wieder auszudehnen, in allen ehemaligen Sowjetrepubliken haben russlandfreundliche (und mutmaßlich von Moskau finanzierte) Kräfte an Boden gewonnen. Offen zu Tage liegt die Einflussnahme Moskaus zur Förderung dieser Bewegungen, so war es beim Bronzesoldaten und so ist es jetzt. Natürlich sieht man das in Estland überwiegend mit Sorge. Im Gespräch war jetzt, die USA um Einquartierung ständiger Truppen zu bitten. In einer Postwurfzeitung der Zentralpartei wurde dieses Vorhaben scharf kritisiert, es solle lieber eine bessere Diplomatie betrieben werden. Ausserdem stand in derselben Zeitung ein Artikel über die sowjetische Zeit mit dem Tenor: „Meckern ist leicht-es war ja aber nicht alles schlecht“.
Dabei stößt auf, was ich im letzten Gemeindebrief bereits erwähnt habe -die schleichende Resowjetisierung der Gesellschaft, unabhängig, ob die Zentrale in Moskau oder Brüssel gesehen wird. Mit Resowjetisierung meine ich eine bestimmte Handhabung von Gesetzen und von Fragen des öffentlichen Lebens. Russischerseits sind wir das gewohnt, aber europäischerseits? Ein Bekannter berichtete mir vor ein paar Wochen von einer Reise nach Lviv (Lemberg), wo die Demonstrationen gegen die Regierung mit der Uhr gemessen zwei Stunden am Tag dauerten. Dabei wurden Bändchen verteilt mit abwechselnd den Flaggen Europas und der Ukraine. Es wirkte auf meinen Bekannten, wie eine von Europa finanzierte Demonstration.
Hier wurden und werden, so denken viele Esten, auch durch Europa Fehler gemacht: Kaum jemand traut dem Euro. Den mit viel Schwung vorgetragenen Menschenrechtskampagnen und Gesundheitsaufklärungskampagnen (gegen rassische Diskriminierung, gegen Homophobie, für Kondome usw.) gegenüber zeigt sich der Durchschnittseste nicht ablehnend (obgleich es auch Ablehnung gibt) sondern eher befremdet. Was soll das alles? Warum so viel Geld und so viel Pathos? Das feine Gespür für Bevormundung, das kleinen Völkern zueigen ist, regt sich. Von der erzwungenen Einführung einer Ideologie, von Eurokratie und fünfjahresplanartiger Projektierung aller Lebensbereiche wird gesprochen, dazu wirkt das scheinbar völlige Fehlen von Glasnost und Perestroika in der gefühlten amtseuropäischen Selbstdarstellung. Die neue Union krankt offenbar für viele Esten an denselben Krankheiten, wie die alte, die man glücklich losgeworden ist, nur die Ideologie ist nun eine andere, angenehmere.
Auf diesem Hintergrund ist Putins Anti-Schwulen-Gesetz ein kluger Schachzug, der einige in Osteuropa bewegt hat – nämlich die Konservativen auf Moskau hin! Ich habe den Eindruck, dass in Brüssel solche Widerstände ganz deutlich unterschätzt werden. Die fortschrittsoptimistische Siegeszuversicht, die eine Diskussion wirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Fragen gar nicht erst zulässt, Gegner schlicht als rückständig abtut und fest daran glaubt, das gegenwärtige europäische System inklusive seiner „Seele“ werde sich zwangsläufig durchsetzen, könnte zum Sargnagel der europäischen Idee werden, wenn aus dem Gruppen- ein Mehrheitsdenken würde. Noch sehen die meisten Menschen in Estland auch das Positive, Projektfinanzierungen, Infrastrukturmaßnahmen und allerlei begrüßenswerte europäische Standards. Aber sie haben auch gelernt, dass Marktwirtschaft und Reisefreiheit nicht unbedingt an Europa gebunden sind abgehört werden die Bürger hüben wie drüben, und Redefreiheit braucht man ja leider nur dann, wenn man etwas zu sagen hat. Ich hoffe jedoch, dass das Beispiel der Ukraine uns den doch noch bestehenden Unterschied wieder deutlicher macht und es weiterhin jedem Esten unangenehm aufstößt, dass jenseits der Grenze staatlich geduldete Gewalt gegen Andersdenkende und Andersfühlende ausgeübt wird, und dass die Resowjetisierung explizit und nicht implizit stattfindet!
Am 18. Februar jedenfalls wird der Grenzvertrag mit Russland unterschrieben. Die letzte (?) strittige Ostgrenze der EU ist damit geklärt. Estland verzichtet auf zwei halbe Landkreise (das Land östlich der Narva und das östliche Setumaa) und zwei Städte (Petseri und Ivangorod), die ihm nach dem Tartuer Frieden von 1920 zugesprochen worden waren. Die Grenzziehung Stalins wird damit völkerrechtlich akzeptiert. Befürworter sehen hierin einen Aufbruch zu besseren diplomatischen Beziehungen mit Russland, eine längst überfällige de jure Anerkennung einer de facto Grenzziehung, einen realpolitischen Schritt, denn dass Russland die Gebiete zurückgibt, ist so unwahrscheinlich wie eine estnische Kolonie auf dem Mond, und es leben sowieso kaum Esten in dem fraglichen Gebiet. Gegner argumentieren mit einer weiteren Opferung estnischer Interessen zugunsten europäischer Maßgaben, verweisen auf das Schicksal der nun auch juridisch geteilten Setu und manch ungeklärte Frage (Entschädigung der ehemaligen Besitzer, Nutzung der durch den Narvaschen Staudamm gewonnenen Energie nicht vertraglich geregelt). Insgesamt ist aber die überwiegende Mehrheit des Parlaments für die Unterzeichnung des Vertrags. Die Kommunalwahlen im Herbst brachten im Wesentlichen eine Bestätigung der bestehenden Regierungen. Überragender Sieger wurde Tallinns Bürgermeister Edgar Savisaar von der russlandfreundlichen Zentralpartei. Seine Partei regiert in Tallinn seit 1996. Auch diesmal wurde sie mit absoluter Mehrheit an die Macht gewählt.“
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